Die Welt hat immer noch helle und heile Seiten. Sich daran zu erfreuen, sollte selbst in diesen dunklen Zeiten möglich sein. Auch die Schönheit hat ein Recht darauf, wahrgenommen zu werden. Und Fotografie, die sie darstellt, ist ganz bei sich.
Der Herausgeber des Bandes «Let’s Get Lost», Finn Beales, ist ein international erfolgreicher und renommierter Fotograf, der in Wales lebt. Er hat eigene Beiträge aus verschiedenen Erdteilen zusammengestellt. Dazu hat er es verstanden, andere erstrangige Fotografinnen und Fotografen zu gewinnen. Alle Beiträge sind jeweils einem übergeordneten Thema zugeordnet: Gebirge, Karge Natur, Küste, Eis & Schnee, Flüsse & Seen, Wälder.
Schon beim ersten Blättern halten einzelne Bilder den Blick fest. Man verweilt und fängt an, sich in die abgebildete Landschaft hineinzuversetzen. Schon hat eine Reise im Inneren begonnen. Dieser Effekt wird nicht nur durch die gelungene grafische Gestaltung der Kapitel verstärkt. Etwas anderes kommt hinzu, was ebenso naheliegend wie ungewöhnlich ist:
Jede Fotografin und jeder Fotograf hat einen kurzen Begleittext verfasst, in dem erklärt wird, wie diese Bilder zustande gekommen sind. Normalerweise sind Fotografen stumm. Sie liefern ihre Bilder, und das war es dann auch. Die Texte schreiben andere. Hier aber erzählen sie selbst, und das machen sie ganz hervorragend. Und so erfährt man, was diese Fotografen auf ihren Reisen suchen, wie sie sich vorbereiten und welche Schwierigkeiten sie vor Ort zu bewältigen haben. Und nicht zuletzt: welches tiefe Glück sie erleben, wenn endlich der Moment gekommen ist, auf den sie zum Teil sehr lange hingearbeitet haben.
Diese begleitenden Berichte erschliessen manche Fotos, die man zunächst weniger beachten würde. Man sieht eine karge Landschaft oder eine Wüste mit anderen Augen, wenn geschildert wird, wie lang und zum Teil mühsam die Fussmärsche waren, oder wie raues Wetter eine Landschaft in Nordeuropa absolut unwirtlich machte, wodurch sich aber erst der besondere Reiz offenbarte.
Überhaupt fällt die Vorliebe der meisten Fotografen für abgelegene und schwer zugängliche Regionen auf. Dazu kommen Besonderheiten. Chris Burkard zum Beispiel hat sich auf Surf-Fotografie spezialisiert. Deswegen reiste er zur Halbinsel Kamtschatka, um dort jenseits aller Zivilisation ganz besonders reizvolle Wellen zu geniessen. Und Reuben Wu benutzt für seine Fotos Drohnen, die mit ihren Scheinwerfern zum Beispiel Eisformationen in ein spezielle Licht tauchen.
Manchmal wird die Ausrüstung erwähnt, die die Fotografen oft mühsam an entlegene Orte schleppen oder von der sie Teile vor Antritt ihrer Fussmärsche oder Klettertouren zurücklassen müssen, um überhaupt an ihr Ziel zu gelangen. Das aber sind eher Nebenbemerkungen. Viel wichtiger ist, wie die Fotografen die innere Bewegung schildern, die die Landschaften in ihnen auslösen.
So hat sich die australische Fotografin Emilie Ristevski in die Wüste Namib in Namibia begeben. Sie entwickelte auch eine Vorliebe für andere abgelegene Landschaften, wobei sie eine beachtliche Karriere als Lifestyle- und Reisefotografin vorzuweisen hat. Die Wüste Namib hat sie, wie ihren Fotos und ihrer Schilderung zu entnehmen ist, besonders tief berührt. Seit 50 Millionen Jahren ist dieses Gebiet ausgetrocknet, somit ein äusserst lebensfeindlicher Ort, doch stiess Ristevski immer wieder auf Leben.
Dem Herausgeber Finn Beales und den anderen Fotografen dieses Bandes ist es gelungen, mit ihren Bildern die Schönheit in der Natur so wiederzugeben, wie sie sie selbst berührt hat. Es handelt sich also um mehr als Reisefotos, die Prospekte und Websites füllen. Was die besondere Qualität dieser Bilder jeweils ausmacht, ist eine eigene Betrachtung wert.
Der Titel, «Let’s Get Lost», ist einerseits treffend, und man versteht spontan, was mit ihm gemeint ist. Aber vielleicht bringt er etwas anderes ein bisschen zu wenig zum Ausdruck: Die dort versammelten Bilder und Geschichten bieten gerade in einer Zeit der von Menschen verursachten Schrecken auch so etwas wie eine Seelennahrung.
Finn Beales (Hrsg.): Let’s Get Lost. Der perfekte Augenblick an den schönsten Orten der Welt. 340 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Prestel Verlag, München. London. New York. 2022, ca. 41,50 Euro