Wer Interessantes schreiben will, muss sich inspirieren lassen – sei es von eigenen Erfahrungen und Ideen oder durch Anregungen aus Sekundärquellen wie Bücher, Filme, Bilder, Theater. Thomas Mann hat sich für seine grossen Werke besonders intensiv durch Lektüre-Erfahrungen anregen lassen. Und er hat sich über diese Inspirationsprozesse nicht selten geäussert – in Vorträgen, in den Tagebüchern und anderen Aufzeichnungen. Er benutzt dabei gerne zwei Begriffe, die zumindest für passionierte Leser motivierend sind: Lese-Hygiene und Stärkungsliteratur.
«Nötige Erdenschwere und solide Wirklichkeit»
Die Literaturwissenschafterin Jutta Linder hat im Thomas Mann-Jahrbuch 2020 über die Bedeutung der beiden Begriffe für den Schriftsteller einen interessanten Aufsatz publiziert. Zur Lese-Hygiene zählte Thomas Mann jede Art von Lektüre, die ihn während des Schaffensprozesses an einem bestimmten Werk anregte und bereicherte. In erster Linie war das Sachliteratur, die im Kontext mit dem Inhalt des entstehenden Werkes stand.
Diesen Zusammenhang wiederum hat der Autor gelegentlich selbst wieder zu einer Facette seiner Erzählungen gemacht. Jutta Linder zitiert dazu eine leicht ironische gefärbte Passage aus dem «Felix Krull». Dort heisst es: «Gleichwie das Schiff der Sandlast, so bedarf das Talent notwendiger Kenntnisse.» Es seien Kenntnisse, die das Talent «hungrig an sich rafft, um sich die nötige Erdenschwere und solide Wirklichkeit daraus zu schaffen».
Es gehört zu Thomas Manns Eigenheiten, dass er beim Lesen grundsätzlich «mit dem Bleistift» arbeitet, also die gelesenen Texte mit Unterstreichungen und Randbemerkungen versieht. In seiner Nachlassbibliothek, so erfahren wir von Jutta Linder, ist bei Zeitschriften- und Zeitungsartikeln auch häufig der Einsatz von Farbstiften zu sehen. Sogenannte Highlight-Stifte zum Markieren von Zeilen mit durchsichtiger Farbe, wie sie bei Studenten beliebt sind, waren ja zu Thomas Manns Zeiten noch nicht auf dem Markt.
«Grossverwandtes» zur Entspannung
Zur Lese-Hygiene im weiteren Sinn zählt der Schriftsteller ausserdem die sogenannte Stärkungslektüre. Das sind Werke, die er zur seelischen Entspannung und Motivation neben der Arbeit an einem bestimmten Werk liest und die nicht unmittelbar mit diesem Werk zu tun haben. Als solche «Stärkungslektüre», so erklärte er in einem Vortrag in Amerika, habe ihm beim Schreiben der grossen Joseph-Romane etwa «Tristram Shandy» von Lawrence Sterne und Goethes «Faust» gedient. Er bezeichnet Bücher dieser Art, die ihm beim Schreibprozess in die richtige Stimmung versetzen, als «grossverwandt».
Zu solchen «Gross-Verwandten» zählte Thomas Mann auch Gottfried Kellers «Grünen Heinrich», den er laut Tagebuch vom Mai und Juni 1946 «mit wohligster Anteilnahme, mit immer wachsender Bewunderung» las. Andere «grossverwandten» Werke waren für ihn, erfährt man bei Jutta Linder, etwa die Romane Fontanes und verschiedene Werke Stifters.
Völlig neu oder exklusiv sind die Überlegungen und Hinweise zu Thomas Manns Begriffsprägungen «Lese-Hygiene» und «Stärkungslitertatur» natürlich nicht. Aber diese Begriffe und ihr Hintergrund sind geeignet, uns die Möglichkeiten geistiger Anregung und das psychologische Potential intensiver Lektüre ins Bewusstsein zu rufen. An Lesestoff fehlt es uns heute ja noch weniger als zu Thomas Manns Zeiten. Zwar musste dieser sich noch nicht mit dem inflationären Geschrei der Social Media herumschlagen, aber er war immerhin auch ein fleissiger Zeitungsleser. Doch als «Stärkungslektüre» dienten ihm ganz andere Text-Kategorien. Diese Erfahrung kann man auch in unseren Tagen machen.