Der Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) sah sich im März veranlasst, eine Rote Liste der in Libyen gefährdeten kulturellen Güter zu veröffentlichen, darunter 5 Welterbestätten. Nach einem Vandalenakt in der Welterbestadt Sabratha besteht der Verdacht, dass die Isis-Milizen auch hier, wie in Syrien, sich ikonoklastisch profilieren wollen. Begehrtester Preis für die jihadistischen Bilderstürmer: Leptis Magna.
Nach Karthago war Leptis Magna die bedeutendste antike Stadt am Südrand des westlichen Mittelmeers, mit 100 000 Einwohnern zur Zeit der höchsten Blüte nach damaligem Verständnis gar eine Grossstadt. Zwischen 1920 und 1943 lüfteten italienische Archäologen stellenweise die Decke aus Flugsand, die ein Jahrtausend über das immense Stadtgelände gelegt hatte. Seit 1950 setzt die Altertümerverwaltung Libyens mit wechselndem Aufwand und Eifer die Grabungs- und Wiederherstellungsarbeiten fort. 1982 wurde Leptis in den Rang einer Welterbestätte erhoben.
Die nachmalige Grossstadt begann bescheiden als phönikische Handelsniederlassung Anfang des 1. vorchristlichen Jahrtausends; später wurde Leptis eine punische Kolonie. Es gab dort Wasser und Fruchtland, einen Ankerplatz für Schiffe. Vor allem aber: von hier ging der kürzeste Karawanenweg ins Innere Afrikas ab. Mit seiner Bescheidenheit fuhr Leptis jahrhundertelang gut: weder forderte es die grosse Mutter zur Linken, Karthago, heraus, noch provozierte es allzu sehr die aufsässigen Wüstennomaden in seinem Hinterhof und zu seiner Rechten.
Aus dem 3. Punischen Krieg, der Karthago zerstörte, konnte es sich heraushalten, und vor den aufständischen Numidern und Garamanten rettete es sich in die Obhut Roms. Rom belohnte die Loyalität der afrikanischen Stadt mit Privilegien. In den ersten drei Jahrhunderten wuchs sie und wuchs; damals nahm sie den Beinamen Magna, „die Grosse“, an – zur Unterscheidung von einem gleichnamigen Schwesterstädtchen, Leptis Minus. Nero rüstete das grosse Leptis mit einem leistungsfähigen Hafen aus. Am Transsaharahandel reich gewordene Bürger stifteten Monumentalbauten. Ein Einheimischer sponserte um die Jahrtausendwende das Schauspielhaus – eines der schönsten und ältesten römischen Theater überhaupt. Später sorgte Septimius Severus, römischer Kaiser von l93 bis 211, für einen Quantensprung der Stadtentwicklung: gebürtiger Lepitaner, verwöhnte er seine Vaterstadt mit Prunkbauten; sein Sohn und Nachfolger Caracalla tat es ihm gleich.
Die Steinbrüche Ägyptens, Kleinasiens, Tunesiens und der Kykladen lieferten Tausende Tonnen des kostspieligsten Marmors, in zum Teil riesigen Blöcken, zum Bau der severischen Neustadt. Nach der Mitte des 4. Jahrhunderts ereilte Leptis eine Pechsträhne. Die Wüstenvölker und die Vandalen setzten ihm zu, auch die ihm gewogenen Byzantiner brachten am Ende nur noch mehr Zerstörungen. Die Stadt schrumpfte zu einem Kaff, die Sandabwehr erlahmte, Dünen überfuhren die städtische Pracht. Der Marmor, der da und dort aus dem Sand ragte, regte später immer wieder den Appetit von Plünderern an. Unter ihnen tat sich nach 1686 der französische Konsul in Tripolis, Claude Lemaire, hervor: er schaffte Schiffsladungen des leptitanischen Marmors nach Toulon und von dort nach Paris, wo er an Steinmetzen und Bildhauer verhökert wurde; Hunderte von Säulen aus Leptis wurden in Versailles verbaut, vier stützen den Baldachin über dem Altar in der Kirche St-Germain-des-Prés.
Die Wiedergewinnung von Leptis ist archäologiegeschichtlich kein Ruhmesblatt. Die italienischen Archäologen der zwanziger und dreissger Jahre gingen mit der einzigartigen Fundstätte eher ruppig um. Sie foutierten sich weitgehend um Fragen der Stratigraphie, heute das A und das O jeder sauberen archäologischen Grabung. Weder bei dem frühen noch dem späten Leptis hielten sie sich lange auf, ihnen lag ausschliesslich an dem Plan der kaiserzeitlichen Stadt und an ausgewählten Repräsentationsbauten – Forum, Markthallen, Thermen, Tempel, Theater, Amphitheater, Circus, Prachtstrassen. Diese auferweckten sie freilich triumphal. Für die Vandalen des Islamischen Staats wäre diese Auswahl an Gebäuden, salopp ausgedrückt, ein gefundenes Fressen. Das Ruinengelände von Leptis ist allerdings mehr als weitläufig. Dass diese Weitläufigkeit einen gewissen Schutz bieten würde, ist vermutlich eine Illusion, wie das ebenfalls ausgedehnte Palmyra in Syrien gezeigt hat. Dort gingen der Baaltempel und ganze Abschnitte der Kolonnadenstrassse unwiederbringlich verloren. Es fällt auf, dass jetzt, nach der Rückeroberung Palmyras an Ostern 2016, diese Schäden eher kleingeredet werden – vermutlich aus Erleichterung darüber, dass die Vandalen nicht alles kaputt geschlagen und gesprengt haben. – Jahr des Flugbilds: 1965. (Copyright Georg Gerster/Keystone)