Wenn gesagt wird, dass Migranten oder Asylanten sich an unsere Leitkultur zu halten hätten, sich also in unsere Kultur integrieren sollen, wird kaum jemand widersprechen. Denn die Sache scheint ziemlich klar zu sein. Leitkultur ist eben – Leitkultur.
Aber gehört es zur Leitkultur, mit Messer und Gabel zu essen? Vielleicht schon, normalerweise. Aber kaum denkt man darüber nach, fallen einem tausend Ausnahmen ein. Ist das Essen mit Messer und Gabel nicht doch eine unwichtige Kleinigkeit unserer Tischkultur?
Wichtiger ist doch zum Beispiel, dass jemand, der dazugehören will, unsere Sprache beherrscht. Ganz klar. Muss das dann aber die sogenannte Hochsprache sein, oder käme man auch mit Mundart durch? Und wenn ja, mit welcher? Und wie steht es mit der Rechtschreibung?
Essgewohnheiten und Sprache: Da mag es an den Argumenten für das grosse Ganze hapern, aber in Kleinigkeiten sind wir empfindlich. Schmatzen oder der falsche Gebrauch von Artikeln oder Pronomen sind nun einmal schwer erträglich.
Geht es bei der Leitkultur nicht um Grundsätzlicheres? Dass zum Beispiel Frauen mit Respekt behandelt werden? Da wird kein Mitglied unserer Leitkultur widersprechen, und man darf mit Stolz hinzufügen, dass unsere Kultur im Hinblick auf die Gleichheit grosse Fortschritte gemacht hat. Aber das ist eine relativ neue Entwicklung. Müssten wir uns also im Namen der Leitkultur grundsätzlich von unserer Vergangenheit distanzieren?
Das liesse sich bewerkstelligen. Die Vergangenheit ist sowieso vergangen. Aber wie halten wir es jetzt mit Kulturen, für die wir viele Sympathien haben, in denen aber unsere Grundsätze verletzt werden? In denen, wie zum Beispiel in Amerika, die Todesstrafe praktiziert wird? Die ist mit der rechtlichen Leitkultur Europas nicht vereinbar. Aber das ist kein Thema. Keiner käme auf die Idee, Amerikaner als Nachbarn abzulehnen – wenn sie denn weiss sind.
„Leitkultur“ versteht sich so lange von selbst, wie der Sinn dieses Wortes nicht näher befragt wird. Das ist eine geradezu magische Leistung der Sprache. Sie stellt etwas in dem Raum, das – unbefragt –Identität stiftet. Jeder glaubt zu wissen, worin sie besteht. Aber bei näherem Hinschauen zerbröselt sie. Also darf man an dem Wort nicht rühren. Sonst wird man gefragt: „Sie sind wohl nicht von hier?“