Es ist für die Nation wie ein Schlag in die Magengrube und ein schmerzhaftes Symbol, das Bände spricht über den Zustand des Landes. Frankreich, das bislang immer wieder, manchmal mit ironischem Unterton, auch als «Republik der Lehrer» bezeichnet wurde, findet heute, im Jahre 2012, kein Lehrpersonal mehr.
Der Berufsstand des Lehrers, der im laizistisch-jakobinischen Frankreich eineinhalb Jahrhunderte lang zu den absoluten Grundfesten der Republik gehörte, wird von der nachwachsenden Generation nur noch mit Verachtung gestraft.
Die Lehrer hat man «Die Husaren der Republik» genannt. Sie haben in ihren schwarzen Röcken und mit ihren Bärten, die sie noch in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts auszeichneten, das cartesianische Frankreich gegen die Jahrhunderte alte Macht des Klerus und dessen Obskurantismus verteidigt. In der kollektiven Erinnerung haben sie der Republik endgültig zum Durchbruch verholfen - diese Lehrer rangieren auf Frankreichs Werteskala im Jahre 2012 plötzlich nur noch unter ferner liefen.
700 Stellen unbesetzt
Bei den alljährlich stattfindenden, landesweit einheitlichen Wettbewerben für die Lehrerstellen am Collège (für Schüler im Alter von 10 bis 16), dem sogenannten CAPES – wo sich noch vor wenigen Jahren 20 bis 30 Kandidaten um einen Posten schlugen - gab es diesmal doch tatsächlich weniger Kandidaten mit ausreichendem Niveau als zu besetzende Stellen. Mit landesweit nur 4848 Posten waren ohnehin relativ wenige neu ausgeschrieben, trotzdem blieben am Ende über 700 unbesetzt – in den Fächern Mathematik, Griechisch und Latein, aber auch, und das ist neu, in Englisch und Französisch.
Es ist ein Hohn. Ausgerechnet jetzt, da der neugewählte Präsident, trotz leerer Staatskassen und weiter gehendem Abbau von Beamtenstellen in anderen Bereichen, für das Schulwesen ganz besondere Anstrengungen machen will und die Einstellung von 6000 Lehrern und sonstigem Personal für die nächsten fünf Jahre angekündigt hat, bekommt es die Nation schwarz auf weiss serviert: Kaum jemand in diesem Land fühlt sich noch zum Lehrer berufen - trotz einer Arbeitslosigkeit von 23 % bei den unter 25-Jährigen.
Gründungsmythos der Republik
Es ist ein Schlag ins Gesicht der Nation und zeigt auf sehr krude Art und Weise, wie tief zerrüttet dieses Land ist, wie weit, neben der wirtschaftlichen auch die gesellschaftlich-moralische Krise fortgeschritten ist. Der Beruf, den man Jahrzehnte lang mit verklärten Augen als einen der schönsten überhaupt bezeichnet hat, zieht heute niemanden mehr an.
Dabei sind der Lehrerberuf und die kostenlose, obligatorische und laizistische Schule in Frankreich schlicht ein Gründungsmythos der Republik. Die Möglichkeit für jeden, gleich welcher Herkunft, es dank der für alle im Prinzip gleichen Schule der Republik zu etwas zu bringen, gehört zu Frankreichs immer wieder bemühten Legenden. Der neue Parlamentspräsident und die neue Kulturministerin, der eine in den 60er, die andere in den 80er Jahren in proletarischem Milieu gross geworden, sind lebende Beispiele dafür.
Und fast jedes Kind kennt die Geschichte des Literaturnobelpreisträgers Albert Camus, dessen Vater im Krieg gefallen und dessen Mutter Analphabetin war und zum Überleben bei reichen Leuten putzen ging. Nur dank seines weitsichtigen und aufmerksamen Lehrers im unterprivilegierten Stadtviertel Belcourt in Algier, konnte Camus werden, was er wurde.
Aber vielleicht kennt ja inzwischen eben nicht mehr jedes Kind diese Geschichte, weil in Frankreichs Schulen, denen die Lehrer davonlaufen und wo keine neuen mehr hinwollen, immer weniger wissen, wer Camus überhaupt war. Immerhin sind heute im Land des Geistes und der Kultur am Ende der Schulzeit fast zehn Prozent eines Jahrgangs mehr oder weniger Analphabeten!
Kollektives Versagen
Das Desertieren aus dem Lehrerberuf ist eine schallende Ohrfeige für die Kulturnation, ein, wie die Tageszeitung „Le Monde“ schrieb, "kollektives Versagen des Staates, der Zivilgesellschaft, der Lehrer und der Eltern".
Frankreich bekommt jetzt die Quittung für zwei Dinge. Für die Geringschätzung, die der Staat seit Jahrzehnten seinen Lehrern gegenüber zum Ausdruck bringt, indem er sie erbärmlich schlecht bezahlt. Gerade 1580 Euro netto vor Steuern verdient ein Lehrer am Collège zu Beginn seiner Karriere, zehn Jahre später sind es nicht mehr als 1900 – statistisch liegt man damit klar im unteren Drittel der OECD-Staaten.
Wer in einer Grossstadt arbeitet, besonders in Paris, kann sich nicht mal eine ordentliche Wohnung nehmen und wenn, dann müssen seine Eltern oder andere ihm die Kaution stellen, da sein Einkommen nicht als ausreichend erachtet wird und ein Lehrer der Republik schlicht nicht als vertrauenswürdig gilt.
Und schon seit über einem Jahrzehnt kursieren regelmässig Geschichten über Schüler in den Vorstadtghettos, die sich über ihre Lehrer wegen ihrer niedrigen Einkommen lauthals lustig machen, ihnen vorrechnen, dass sie für einfaches Schmiere-Stehen bei Drogengeschäften mehr verdienen, als der, der da Autorität über sie ausüben möchte.
Gleichzeitig aber ist Frankreich eines der OECD-Länder, das pro Schüler im Collège und im Lyceum am meisten Geld ausgibt - ein konsternierender, schwer nachvollziehbarer Widerspruch und die hier nicht zu beantwortende Frage: Wohin verschwindet das Geld?
Pädagogik – ein Fremdwort
Das andere Manko, das mit dem heutigen Zustand zu tun hat, ist die Tatsache, dass in diesem Land der Begriff "Pädagogik" ein Fremdwort und das Verständnis vom Lehrerberuf ein sehr eingeschränktes ist. Die Gesellschaft und ihre Entwicklung habe bitte vor den Toren der Schulen halt zu machen, mit dem familiären oder sozialen Umfeld habe sich ein Lehrer nicht abzugeben, er habe Wissen zu vermitteln und damit basta - heisst es in diesem Land quasi gebetsmühlenhaft.
Über die Mittel, das Wissen zu vermitteln, macht sich aber kaum jemand Gedanken - ausser ein paar Kultusbürokraten, die unverdauliches, pseudopädagogisches Kauderwelsch produzieren und von Unterrichten selbst kaum eine Ahnung haben – weil sie schon von Anfang ihrer Karriere an möglichst alles getan haben, um ja keiner Schulklasse zu nahe zu kommen.
Dass man sich die Mittel zur Wissensvermittlung als junger Lehrer erst mal aneignen muss, scheint man in diesem Land völlig zu ignorieren. Die praktische Ausbildung von jungen Lehrern war in Frankreich bislang schon stets auf das Minimum beschränkt gewesen, unter Präsident Sarkozy aber hatte man das wenige dann auch noch abgeschafft und in den letzten drei Jahren doch tatsächlich 23-24-jährige, frisch von der Universität kommende Studenten den Schülern regelrecht zum Frass vorgeworfenen – pro Jahr haben hunderte Junglehrer den neu ergriffenen Beruf unmittelbar wieder hingeschmissen.
Zumal Ministerium und Kultusbürokratie nach wie vor nicht in der Lage sind zu ändern, was man schon seit zwei Jahrzehnten als Unding erkannt und bezeichnet hat. Dass nämlich die jüngsten und unerfahrenen Lehrer ausgerechnet dort eingesetzt werden, wo das Unterrichten am schwierigsten ist - in den Vorstadtghettos, während sich die erfahrenen Kollegen, wenn sie genügend Punkte gesammelt haben, in ruhigere Zonen versetzen lassen, aus denen sie sich dann keinesfalls mehr wegbewegen. Diese Stellen betrachten sie als Errungenschaften, die sie mit Klauen und der Unterstützung ihrer Gewerkschaften heroisch verteidigen. Seit zwei Jahrzehnten wird dies beklagt, seit zwei Jahrzehnten hat sich nichts geändert.
Die grosse Reform des französischen Schulwesens, die sich Präsident Hollande vorgenommen hat, wird ihm noch manches Kopfzerbrechen bereiten und die amtierende Lehrerschaft, die ihm bei der Wahl zwar zu 80 % ihre Stimmen gegeben hat, im Grunde aber, was ihren Beruf angeht, reichlich unbeweglich, um nicht zu sagen konservativ ist, wird dem neuen Präsidenten dabei nicht unbedingt eine grosse Hilfe sein. Und man muss jetzt auch noch dringend eine Antwort finden auf die Frage: Wie kann man den Lehrberuf überhaupt wieder attraktiver machen?