1.Die Tradition der rücksichtslosen "Penny Press" kennt man hierzulande nicht. In Grossbritannien liefern sich die Boulevardzeitungen seit 150 Jahren einen brutalen Konkurrenzkampf. Auflagen mit bis zu zehn Millionen standen bis vor einigen Jahren auf dem Spiel. In der Schweiz kam der erste "Blick" erst 1959 auf den Markt. Echte Widersacher ("Neue Presse" in den späten 60er Jahren) konnten sich nie fest etablieren. Erstmals werden jetzt die online-Zeitungstitel der Traditionshäuser den "Blick"-Ausgaben etwas gefährlich, aber das ist ein sehr langer Prozess – auch wenn die Auflagen der "Blick"-Familie über die Jahre hinweg gesunken sind. Anderseits haben sich die sogenannten Qualitätszeitungen den Boulevardzeitungen ein Stückweit angenähert, indem sie die Bebilderung hochfahren, narrativer und personalisierter berichten (auf Kosten der früher breiten Ratsprotokolle zum Beispiel), ihre Recherchen verstärken. Jedenfalls soweit die gleichzeitig drastischen Sparmassnahmen das zuliessen.
2.Zwar haben sich auch in der Schweiz Zeitungskonzerne gebildet, heute zuvorderst und den Sprachgraben überspringend "Tamedia". Dahinter die NZZ-Gruppe, "Südostschweiz"-Medien, AZ- und Mittellandzeitungsgruppe. Ausgerechnet die "Tamedia" will ihre Fernseh- und Radiopositionen abstossen, weil sich in der regulierten elektronischen Medienlandschaft zu wenig sichere und grosse Renditen erwirtschaften lassen.
3.Anders als in Grossbritannien ist in der Schweiz aber kein Grossmogul am Horizont, der nicht nur in Presse und Privatfernsehen gleichzeitig breite Machtpositionen anstrebt, sondern diese unverfroren in die Parteipolitik überträgt. Rupert Murdoch hat einmal dem Labour-Mann Tony Blair, ein andermal dem Tory David Cameron wertvollste Schützenhilfe geleistet, nur um später harten Druck aufzubauen, als es um den Erwerb der SkyTV-Aktien ging. Es ist nicht mehr bestritten, dass David Cameron mit Rupert Murdoch oder desssen Sohn über längere Zeit hinweg zweimal monatlich zusammensass. Und es ist aktenkundig, dass Cameron den Murdoch-Chefredaktor Andy Coulson 2010 als Regierungsssprecher zu sich holte, obwohl dieser wegen erster Abhöraffären zuvor den Redaktionssessel hatte räumen müssen – vielleicht Camerons grösster taktischer Fehler, wie er selber am Mittwoch abend zugab.
4.Es wurde zu viel, als die Murdoch-Kader zwei sich teilweise ausschliessende Ziele immer skrupelloser verfolgten: Einerseits Auflagesteigerungen der eigenen Boulevardpresse mit allen Mitteln, zu denen Abhöraktionen gegenüber viertausend "interessanten" Zeitgenossen gehörten, um daraus knackige Stories zu alimentieren. Anderseits Bestechung von Polizeioffizieren, sodass lautgewordene Persönlichkeitsschutz- und Korruptionsvorwürfe in Amtsschubladen liegen blieben. Die britische Boulevardpresse hat immer mit dem Beifall der Massen 'Celebrities' und Mächtige heruntergerissen. Als die Abhörangriffe mit Hilfe von Privatdetektiven sich gegen einfache Leute richteten, Verbrechensopfer und Soldatenwitwen, kehrte die Volksgunst gegen die Murdoch-Redaktionen – ein Rest des alten Klassendenkens. Auch die Bestechung von Polizeioffizieren bei Scotland Yard kam ganz schlecht an. Die gefürchtete Murdoch-Maschine war plötzlich entblösst und verlor ihren Schrecken. Und die Tory-Mehrheit im Parlament setzte sich blitzschnell von Murdoch ab.
5.Was tun? Die englischen Gesetze zum Persönlichkeitsschutz sind – ausser gegenüber gewissen Verleumdungen – schwach. Auch die angesehene British Press Complaints Commission, mit einer Mehrheit von zivilen Respektspersonen und Chefredaktoren besetzt, hatte Glanz verloren. Sie musste kleinlaut ihren Tadel (2009) gegenüber der liberalen Tageszeitung "The Guardian" zurückziehen, worin sie Vorwürfe an Murdoch-Zeitungen wegen Abhörens als "stark übertrieben" bezeichnet hatte. Murdochs Kader und Polizeioffiziere hatten die Commission schamlos angelogen und alles auf einen oder zwei Einzelfälle reduziert. Dabei war der unablässig weiterrecherchierende "Guardian" der einzige Held der schmutzigen Affäre. Letzlich hat er die Murdoch-Beule aufgestochen. Aber auch kritische Kommentatoren und Parlamentarier in London zielen bis jetzt nicht auf neue Pressegesetze. Sondern auf verstärkte Selbstregulierung, auf ein Erwachen für Medienethik auch beim Publikum, auf verbesserten Datenschutz (in England immer noch ein Fremdwort). Das wäre wohl auch bei einer konsultativen Umfrage im Schweizer Presserat zu erfahren. Erste Anzeichen von Verwilderung sind in der Schweizer Boulevardpresse durchaus wahrzunehmen; Kaderleute nennen das "harten Boulevard". Da behauptet "Blick" unverfroren, der Untersuchungsrichter bestätige eine Abklärung gegen zwei der Vergewaltigung beschuldigte türkische Taxichauffeure: Der Justizmann hatte nichts bestätigt; einer von zwei war längst aus der Voruntersuchung entlassen. Von der Täterin in einem tödlich verlaufenen Ehestreit hatte "Blick" ein erschlichenes Polizeibild publiziert, das sie im blutverschmierten Nachthemd zeigte. Auch hier: Einzelfälle? Aber eine schleichende Erosion der Standards und korrumpierende Nebenerscheinungen lassen sich nur verhindern, wenn die verantwortungsbewusste Presse Übertretungen konstant tiefer hängt.