Die Bäuerin Pauline in Bettina Oberlis bewegendem Film „Le vent tourne“ ist eine starke, zupackende Persönlichkeit. Gespielt wird sie von der Französin Mélanie Thierry, die schon mit Regiegrössen wie Bertrand Tavernier, André Techiné oder Mathieu Kassovitz gearbeitet hat. Ihren Ehemann Alex verkörpert der ausdrucksstarke Pierre Deladonchamps, der 2014 einen César als bester Schauspieler erhielt; ein Film-Paar auf Augenhöhe.
Es bewirtschaftet in der Gegend des Creux du Van – der majestätischen Naturarena im Schweizer Jura – einen Hof mit Viehhaltung. Ein Unterfangen, das den beiden nicht nur einiges an Arbeitsaufwand, sondern auch reichlich Idealismus abverlangt: Landwirt Alex hat sich nämlich, von missionarischer Sturheit getrieben, rigoros der alternativen, umweltbewussten Landwirtschaft verschrieben. Pauline hat das Familiengut geerbt und unterstützt ihren Mann nach Kräften.
Verwehte Idylle
Als ein Kalb tot zur Welt kommt und bei einer Kuh ein Fieberschub konstatiert wird, macht sich Verunsicherung breit. Alex, der von der klassischen Schulmedizin nichts hält, übergibt die Abklärungen einem Heiler. Und brüskiert damit seine Schwägerin, die als engagierte Veterinärin in der Umgebung praktiziert. Der Hausfrieden gerät – wohl nicht zum ersten Mal – in Schieflage. Und die Idylle ist wie vom Wind verweht.
Und das ausgerechnet jetzt, wo Gäste erwartet werden: Einmal Galina, die an gesundheitlichen Spätfolgen der Atomkatastrophe von 1986 im ukrainischen Tschernobyl leidet und dank der humanitären Organisation „Les Enfants du Tchernobyl“ ein paar Wochen bei Pauline und Alex Erholungsurlaub machen darf. Bei der Ankunft zeigt sich der Teenager indessen mässig begeistert: Mit Shopping, Disco, WiFi und Handy-Empfang ist nichts!
Eine Windturbine als Metapher
Der zweite Besucher, Samuel, soll auf einem zum Hof gehörenden Feld eine grosse Windturbine installieren und in Betrieb nehmen. Denn Alex möchte auf seinem Gehöft unabhängig von irgendwelchen Konzernen „sauberen“ Strom erzeugen. Der Ingenieur Samuel, erfahren in der Errichtung weit grösserer Anlagen, leitet das technisch recht ambitiöse Vorhaben professionell, geht aber nonchalant an die Aufgabe in der Provinz heran.
Im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern soll der smarte Gutaussehende in der Dependance einquartiert werden. Schon beim ersten Besuch gerät er mit der Bäuerin wegen einer selbstverschuldeten Fahrlässigkeit aneinander. Doch Samuels spezieller Charme löst bei der Gastgeberin Gefühle aus, die nachvollziehbar nicht von nachtragendem Zorn gesteuert sind. Dem Gatten entgeht das sich anbahnende Geplänkel nicht, aber er gibt sich gelassen. Schliesslich weiss er, dass sich ohne die Unterstützung des Fachmanns die Windturbine noch lange nicht drehen wird; und das ist es, was ihn (noch) am meisten beschäftigt. Dass der hochaufragenden Strommaschine – eine optisch wie akustisch auffällige Konstruktion – im Handlungsverlauf eine tragende Bedeutung zukommen wird, sei angemerkt: Sie ist so etwas wie ein Katalysator für dramatische, ja brachiale Wendungen.
Lieben und leben lassen
Es braut sich also etwas zusammen auf dem Gut im Ländlichen, es knistert. Wer nun eine Ehebrecher-Story mit Pikanterien erwartet, liegt daneben. So einfach macht es sich Bettina Oberli nicht! Zwar geht es, subtil inszeniert, auch um Sinnes- und Fleischeslust, aber im innersten Kern um mehr. Um die Grundsatzfrage nämlich, wie in der räumlichen Intimität und geografischen Abgeschlossenheit das Quartett auf Zeit – Samuel, Alex, Pauline, Galina – mit der glimmenden Spannungssituation umgehen wird. Und was dabei an substantiellem Lebenselixier übrigbleibt, wegfällt oder aufkeimt.
Das Objekt von Bettina Oberlis Erzählpassion aber bleibt Pauline. Sie rückt stetig näher an die Grenzen ihres bisherigen Lebensentwurfs heran, spürt, dass etwas in ihr aufwallt, das sie fast verschüttet glaubte: Die Sehnsucht nach Freiheit im Sein. Wobei es nicht um die Emanzipation von ihrem Mann geht, den sie liebt. Und noch weniger um die Hingabe an einen andern, den sie im Moment begehrt. Pauline arbeitet an sich selber, auch indem sie sich dem Energiesog der unterschiedlichen Männer aussetzt. Und dem der hellhörigen Galina, die seismographisch registriert, was zwischen den Erwachsenen abgeht. Das macht ihren Reifungsprozess sichtbar und der älteren Pauline Mut.
Schweizer Film à la manière française
Bettina Oberli hat ein Sensorium für Frauenfiguren im Wandel, fraglos. Bewiesen hat sie das zuletzt 2017 in der SRF-TV-Miniserie „Private Banking“, wo es um die Karriere einer Frau im männerdominierten Intrigenstadel des Banken-Mekkas am Zürcher Paradeplatz geht. In ihrem neuen Werk schildert Oberli wiederum eine weibliche Metamorphose – facettenreich, unprätentiös und anrührend.
„Le vent tourne“ ist eine schweizerisch-belgisch-französische Ko-Produktion und als das etwas Besonderes. Das Werk ist – nicht nur sprachlich – durchdrungen von den Ingredienzien des Cinéma français. In einem Interview berichtet Bettina Oberli von der intensiven Zusammenarbeit mit frankophonen Produktionsfachleuten, die ihre bisherige Sicht auf das Filmhandwerk nachhaltig veränderte. Etwa in Bezug auf narrative Straffungen, das Entschlacken von redundanten Elementen, das Weglassen von Nebensträngen der Handlung. Davon hat sie sich leiten lassen – und ihr Schweizer Film à la manière française ist jetzt erfreuliche Realität.
Geschmeidige Eleganz und Aufbruchsoptimismus
Das gute Gelingen ist nicht zuletzt dem homogenen, feinen Schauspielensemble geschuldet. Und der sinnverstärkende Bildgestaltung des Kameravirtuosen Stéphane Kuthy; er hat schon einige Werke von Bettina Oberli ins Bild gesetzt und ist im wahren Leben mit ihr verheiratet. Dem Visuellen kommt in „Le vent tourne“ eine spezielle, weil sehr naturnahe und symbolstarke Bedeutung zu. Sie manifestiert sich im Kontext von Kuthys Impressionen mit der erzählerischen Substanz als vibrierend-geschmeidiges, elegantes Ganzes.
Bettina Oberli wagt den Spagat zwischen bittersüsser Beziehungs- und Selbstfindungs-Story und dem sperrigen, abstrakten Versuch, global kontrovers diskutierte Umweltfragen spielfilmartig zu verorten. Warum klappt das? Weil sich die Autorin richtigerweise dafür entschieden hat, dem Herzensblick auf das Menschliche im Allzumenschlichen am Beispiel ihrer kraftvollen Protagonistin Priorität zu geben und ohne Pathos oder Gefühlsduselei den Beginn eines lange unterdrückten Häutungsprozesses zu skizzieren. Dass „Le vent tourne“ von einigem Aufbruchsoptimismus umweht ist, nimmt man über das Filmende hinaus gerne mit.
Präsentationen an den Solothurner Filmtagen 2019 (Nomination PRIX DU PUBLIC): Do 24. Januar, 20:45 Landhaus / So 27. Januar, 09:15, Reithalle
Kinostart: 31. Januar