Der Bus fährt über eine schmale, kurvige Bergstrasse ins Innere Nordalbaniens. Die steilen Berghänge sind schwindelerregend. Während der Fahrt aus dem Fenster zu schauen, ist schon fast eine Mutprobe. Auffällig in den albanischen "Alpen", die bis 2700 Meter aufsteigen, sind dichte, meist erst in den letzten Jahrzehnten angepflanzte Föhrenwälder und saftige grüne Almen, aber so gut wie kein Vieh. Nur gelegentlich tauchen verwahrloste, häufig verlassene Häusergruppen auf.
Ordensleute als Entwicklungshelfer
Unser Ziel ist Fushe Arrëz, eine heruntergekommene Bergarbeitersiedlung, die in den 50er Jahren aus dem Boden gestampft wurde. In den desolaten Wohnblocks, aus deren Fassaden die Ziegel brechen, leben die Familien auf engstem Raum in Wohnungen, die wegen der löcherigen Dächer feucht und schimmelig sind. Im Bergdorf haben sich zwei deutsche Franziskanerschwestern und ein Kapuzinermönch seit 15 Jahren das Ziel gesetzt, das harte Los der Menschen zu erleichtern. Es ist eine Herkulesaufgabe zwischen religiösem Auftrag und Entwicklungshilfe.
Das Haus der Missionare oberhalb des Städtchens sieht fast wie eine Festung aus - mit einem hohen Gittertor und Mauern, bewacht von Hunden. "Es blieb uns nichts anderes übrig", erzählt Schwester Bernadette. Denn immer wieder sei es zu Einbrüchen gekommen. "Verständlich bei dieser Armut." Die bayerischen Schwestern Bernadette und Grazias haben mit selbstlosem Einsatz und dank Spenden der Caritas und anderer westlicher NGOs einen Kindergarten für 70 Kinder aufgebaut, in dem auch gratis ein Mittagessen angeboten wird. Den Analphabetismus zu bekämpfen, ist eine der grossen Aufgaben in diesem über 50 Jahre von der Aussenwelt isolierten Land, wie die engagierte Caritas-Mitarbeiterin aus Sankt Pölten, Magdalena Niklas, betont. Sie betreut mehrere Sozialprojekte in Albanien. Nur wer lesen und schreiben lernt, habe eine Chance, aus diesem Teufelskreis von extremer Armut und mangelnder Ausbildung auszubrechen.
Ruine einer kommunistischen Minenstadt
Fushe Arëz war unter dem kommunistisch-stalinistischen Diktator Enver Hoxha eine "Musterarbeiterstadt", berichtet Pater Andreas. Eine Kupfermine gab mehreren hundert Menschen Arbeit und ein bescheidenes Einkommen. Die Kupfermine gibt es immer noch, aber sie wurde inzwischen von einem türkischen Unternehmen übernommen, das nur noch 100 Bergarbeiter aus der Umgebung beschäftigt. Die andere Hälfte der Belegschaft sind Türken. Auch das wertvolle Kupfer wird exportiert, ohne dass dies den Einheimischen zugute kommt. Nur die Regierung verdiene daran, heisst es. Die Arbeitslosigkeit in der Bergregion 100 km nördlich der Hauptstadt Tirana liegt derzeit bei 60 bis 80 Prozent, während sie landesweit im Schnitt 13,5 Prozent beträgt.
Viele Einheimischen verlassen die Gegend und ziehen in die Slums der Grosstädte. Staatliche Förderprogramme fehlen. Eine Krankenversicherung existiert praktisch nicht. "Wenn Du arm bist, musst Du sterben", resümiert Pater Andreas. Mit einer staatlichen Pension von 30 bis 40 Euro könnten alte Menschen nur dank der Hilfe des Familienclans überleben. Auch Umweltschutz wird in Fushe Arëz klein geschrieben. Die Kupferscheide hat den Fluss stark vergiftet, die meisten Fische sind dem hochgiftigen Kupferschlamm zum Opfer gefallen.
Blutrache kommt in den wilden Bergen Nordalbaniens immer noch vor. In dem Bergdörfchen Tuc ist es erst vor einigen Jahren zu einem Mord gekommen, berichtet Pater Andreas. In solchen Fällen gilt das jahrhundertealte patriarchalische Gewohnheitsrecht, "Blut mit Blut zu vergelten", der sogenannte "Kanun". Ein männliches Famlienmitglied des Opfers erhält vom "Rat der Alten" auf 70 Jahre das Recht, ein männliches Mitglied der Täterfamilie zu töten, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Deshalb musste die "Täterfamlie" unter Polizeischutz in die Hauptstadt Tirana gebracht werden, wo sie heute anonym lebt, um der Rache zu entgehen.
Die katholische Kirche versucht seither eine Versöhnung herbeizuführen, aber das Ergebnis ist noch offen. An sich ist die Blutrache verboten, doch der Staat ist zu schwach, um das Verbot durchzusetzen. Der Ehrenkodex spielt in dieser archaischen Gesellschaft in den Bergen auch sonst noch eine grosse Rolle. So muss eine Familie im Städtchen Puke, um die sich die niederösterreichische Caritas kümmert, ohne Vater auskommen. Er konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen und beging Selbstmord. Nur so konnte er einen Schuldenerlass für die Famlie erwirken. Für Witwe und Kinder, die nun allein auskommen müssen, ein hartes Los.
Frauenrollen: Last der Vergangenheit
Frauen spielen in dieser patriarchalischen Gesellschaft, die 500 Jahre unter islamischer Herrschaft stand, noch immer eine untergeordnete Rolle. Sie müssen Haus- und Feldarbeit verrichten und die Kinder aufziehen, während die Männer oft ein "Pascha-Dasein" führen, berichtet Pater Andreas. Usus ist in den Bergen häufig, dass die Väter "beim Cafe" die Heirat der Töchter in die neue Famlie arrangieren. Immerhin ist es dem italienischen Priester Don Giovanni gelungen, ein kleines Landwirtschaftsprojekt für Frauen zu lancieren. Sie schlossen sich zu einer Genossenschaft zusammen, um Marmelade, getrocknete Pilze und Kräutertees herzustellen, die in Italien verkauft werden.
Bei der Viehzucht hingegen scheiterte ein solches Modell bisher. Noch zu tief sitzt den Menschen das Misstrauen gegen das kommunistische Kolchosensystem in den Knochen. "Wer eine Kuh besitzt, hütet sie den ganzen Tag - aus Angst, die Milch oder die Kuh könnte ihm gestohlen werden", so Pater Andreas. Der Bürgermeister von Puke hebt auf die Frage nach dem Landwirtschaftspotenzial der Gegend resigniert die Schultern. Die Berglandwirtschaft sei zu zersplittert, die Leute wollten nicht zusammenarbeiten, meint er. Für die Entwicklung des Bergtourismus fehlt wiederum die Infrastruktur.
Die lange osmanische Herrschaft und der Kommunismus haben wohl dazu beigetragen, die Menschen so fatalistisch werden zu lassen, dass sie heute zu den Ärmsten Europas zählen. In der Berggegend ist die Mehrheit katholisch, im Land insgesamt sind 70 Prozent der Bevölkerung Muslime neben 20 Prozent Orthodoxen und 10 Prozent Katholiken. Unter Hoxha war die Ausübung der Religion strikt verboten, nach dem 2. Weltkrieg wurden zahlreiche Priester verhaftet, gefoltert und sogar erschossen.
Späte Unabhängigkeit
Im Gegensatz zu Griechenland, das die türkische Herrschaft bereits um 1820 abschütteln konnte, wurde Albanien erst 1912 unabhängig. Aber Freiheit bedeutete das noch lange nicht. Zwischen den zwei Weltkriegen regierte kurz der Diktator-König Zogu. Unter ihm bildete sich ein nationaler Führerkult heraus, an den der Kommunistenführer Hoxha anknüpfen konnte. Er riegelte das Land hermetisch nach aussen ab, wovon noch etliche der 100'000 Bunker zeugen, die Hoxha in den 60er Jahren mit Hilfe chinesischer Arbeiter gegen imaginäre Feinde errichten liess.
Das junge Land besinnt sich heute wieder auf seine Vergangenheit. 2012 soll das hundertjährige Jubiläum der Staatsgründung gefeiert werden. Und wie jedes Land hat auch Albanien seinen Nationalhelden: Fürst Gjergj Kastriota, genannt Skanderbeg, schlug im 15. Jahrhundert in 25 Jahren 26 Schlachten gegen die Türken und konnte einige albanische Gebiete erstmals zu einem Bund zusammenschliessen. Doch nach seinem Tod 1468 gewannen die Osmanen rasch wieder die Oberhand und eroberten das ganze Land. An die glorreichen Zeiten der "Verteidigung des christlichen Abendlandes" gegen die Türkenherrschaft erinnert ein prunkvolles Museum in dem alten Städtchen Kruje nahe Tirana, das einige Jahrhunderte lang Zentrum der islamischen Bektashi-Sekte war. Eines der wichtigsten Exponate ist eine Kopie von Skanderbegs Helm, gekrönt von dem Kopf eines Ziegenbockes. Das Original bewahrt das Kunsthistorische Museum in Wien auf. Der Helm soll aber als Leihgabe für die Jubiläumsfeierlichkeiten beigesteuert werden.
Aufbruchstimmung ist in der lebendigen und quirligen Hauptstadt Tirana zu verspüren. Verschwunden sind grösstenteils die Schlaglöcher im grosszügig mit Parks und breiten Boulevards ausgestatteten Zentrum. Im ehemaligen Regierungsviertel, wo auch die äusserlich unscheinbare, aber luxuriös ausgestattete ehemalige Villa Hoxhas und der Präsidentenpalast stehen, tummeln sich Studenten. Der Hauptplatz mit seinen stattlichen Gebäuden, die Architekten des faschistischen Italiens in den 30er Jahren während der kurzen Monarchie errichteten, erstrahlen in neuem Glanz. Man geniesst seit kurzem die Freiheit, ins Ausland reisen zu dürfen. Und überall spürt man die Freude, zu Europa zurückgefunden zu haben, auch wenn der Weg in die EU wohl noch lange dauern wird.