Klimakiller Kuh? Seit einem Jahr lesen wir immer wieder über das Rülpsen und Pupsen von Rindern. Einer der vielen Forschungsberichte hält fest: «Insbesondere die Tierhaltung schlägt in der Klimabilanz negativ zu Buche:
Hier werden mehr Treibhausgase frei als im Verkehr.» (ARD, 26.09.22) Es geht vor allem um das Treibhausgas Methan. Grossviehhaltung verursache etwa einen Drittel der menschgemachten Methan-Emissionen.
Und das Kleinvieh? Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner, Kaninchen? Darüber wird nicht so heftig diskutiert. Zum einen produzieren sie tatsächlich nur wenig Methan, zum anderen sind sie zahlenmässig in der Unterzahl. Gesamthaft betrug der Methanausstoss aller deutschen Milchkühe 491 Tonnen, die der Ziegen 0,7 Tonnen, Rinder nicht miteinbezogen. (Augsburger Allgemeine, 03.12.19) Heruntergerechnet auf ein Tier sieht es allerdings gar nicht gut aus für die Milchkühe: Der Methanausstoss einer Milchkuh ist 25-mal höher als der einer Ziege.
Es erstaunt also nicht, dass die Ziegenzucht an Fahrt aufnimmt. Wenn bis vor kurzem ein paar Ziegen als lustige und freundliche Haustiere rund ums Haus gehalten wurden, so werden Ziegen heute immer häufiger professionell gehalten.
Schulbank drücken
Einer von diesen Ziegenhaltern heisst Abraham Lötscher. Er wohnt mit seiner Frau Ladina und ihren vier Kindern in Pany, GR. Vor zehn Jahren konnte die Familie einen Hof erwerben, der ihren Vorstellungen entsprach. Die Bedingung für den Übertrag war allerdings streng: Abraham sollte noch einmal die Schulbank drücken und sich zum Landwirt ausbilden lassen. Noch immer erlernen Söhne und Töchter von Bergbauern einen «ersten» Beruf, als Zweitberuf Bauer oder Bäuerin, um ein regelmässiges Einkommen zu garantieren. Bei den vier Kindern von Ladina und Abraham ist es genauso: Ilona (*2003) ist Fachfrau Hauswirtschaft und steht zur Zeit in der Bäuerinnenausbildung; Fabian (*2005) ist in Ausbildung zum Zimmermann, plant als Zweitausbildung Bauer; Alwin (*2008) wird 2024 eine Lehre als Landwirt antreten und Svenja (*2012) möchte Tierärztin werden.
Da Abraham einen «ordentlichen» Beruf als Baumaschinist hatte und gar nicht gerne zur Schule geht, entschieden die beiden, dass Ladina die Bäuerinnen-Ausbildung in Angriff nehmen würde. Abraham verdiente den Unterhalt; da waren ja auch Eltern und Nachbarn, die zu den Kindern schauen konnten. Wie sagt man in Amerika? «It takes a village to raise a kid.» Trotz Schwangerschaft und Geburt der jüngsten Tochter Svenja schliesst Ladina 2013 erfolgreich als Bäuerin mit Fachausweis ab.
Für Abraham war es klar, dass er Ziegen halten möchte, aber Ladina wollte kein finanzielles Risiko eingehen. In der Schweiz herrscht die Königin Kuh, sie ist einiges erträglicher als Ziegen und so wurden erst, ganz traditionell, auch Milchkühe gehalten. Der Ziegenwunsch musste warten. Auch ist seit einigen Jahren das Halten von Nutztieren auf Bundesebene recht streng reguliert. Tiere müssen angemeldet und registriert werden. (Selbst Hühner müssen registriert werden!) Als Basis für die Regelungen der Nutztierhaltung gilt die Tierschutzverordnung und deren Gesetze, wie sie im Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) festgehalten sind. So heisst es als Grundsatz im Tierschutzgesetz: «Die Tierhalterin oder der Tierhalter ist dafür verantwortlich, dass kranke oder verletzte Tiere unverzüglich ihrem Zustand entsprechend untergebracht, gepflegt und behandelt oder getötet werden. Die dafür notwendigen Einrichtungen müssen im Bedarfsfall innerhalb nützlicher Frist zur Verfügung stehen.» (TSchV 5, Abs.2):
Die notwendigen Einrichtungen für Ziegen gab es bei Lötschers noch nicht. Heute steht da allerdings ein grosser, heller Freilaufstall mit modernster Melktechnik.
Wie ist das gekommen?
Das Leben der Lötschers ist kein Heidi-Idyll. Nicht nur sind die Arbeitszeiten lang und streng, auch müssen stetig Lösungen gefunden werden, um den Hof rentabel zu bewirtschaften. So war Hanspeter Lötscher bis zu seiner Pensionierung Partner der Generationengemeinschaft, d. h., dass vom Einkommen des selbständigen Betriebs zwei Generationen leben müssen. Erst nach seiner Pensionierung (2020) wurde der Betrieb ein « Ein-Generationen-Betrieb», in dem er heute als Angestellter arbeitet. Zusammen mit seiner AHV-Rente reicht es ihm und seiner Frau für ein geregeltes Auskommen.
Für einen (Berg)bauernbetrieb ist es fast nicht möglich, ohne zusätzliche Geldquellen zu existieren. Wenn ein Bauernbetrieb vom Kanton oder/und Bund Gelder beziehen will, dann ist das allerdings durch die Landwirtschaftliche Begriffsverordnung (LBV) streng geregelt. Als Voraussetzung für Direktzahlungen muss die Betreiberin des Betriebs die abgeschlossene Ausbildung zur Bäuerin vorweisen oder mehrere Jahre im Betrieb mitgearbeitet haben. Ladina kann diese Ausbildung vorweisen, Abraham wird nächstens als Landwirt anerkannt werden.
Bürokratischer Aufwand
Es geht also, wie immer, um das Erarbeiten einer Existenz. Einige (Berg-)Bauern sind etwas hilflos, wenn es um neue Formen einer Existenz geht. Zum einen werden sie durch die Direktzahlungen etwas lethargisch, auch wenn der bürokratische Aufwand sehr viel abfordert, andererseits stossen neue Ideen oft (gerade bei Bauern) auf Ablehnung. Nicht so bei Lötschers. Sie sind eine äusserst moderne Familie, die es nicht scheut, Neues und Anderes auszuprobieren. Erst stellten Ladina und Abraham mit der befreundeten Familie Jenny eine «Molki» («Bärg-Pur») in Küblis auf die Beine. Nach dem Erwerb ihres Bauernhauses konnten sie dieses Projekt in gute Hände weitergeben.
Und dann war da Bruno Cabernard, der Ladina ins Boot holte. Seit 80 Jahren gibt es die Coop Patenschaft für Berggebiete, die von Bruno Cabernard mit grosser Leidenschaft betreut wird. Cabernard überzeugte Ladina, sich als Produzentenvertreterin in der Projetkgruppe «Gitzi mit Mehrwert» zur Verfügung zu stellen, ein Projekt, bei welchem der Absatz via coop.ch von Bio-Berg-Gitzis via das «Pro Montagna» Gitzi gefördert wird. Ladina übernahm diese Aufgabe mit grosser Sorgfalt und merkte bald, dass es noch andere Möglichkeiten für ihren Betrieb gibt. Zur Zeit bildet sie sich zur Betriebsleiterin (BLS) aus. Auch haben die Lötschers einen integrierten Arbeitsplatz für Menschen mit Beeinträchtigung geschaffen. Zur Zeit lebt da Arno Aliesch als gut integriertes Familienmitglied. Auch für die Ausbildung junger Bauern und Bäuerinnen engagieren sich die Lötschers. Seit 2021 haben sie mit Tamara Moos eine liebenswürdige, tüchtige Praktikantin, welche Ladina bei den Haus- Garten und Direktvermarktungsarbeiten unterstützt.
Der Aufbau von Ziegenbetrieben ist delikat. Von den Konsumentinnen wird vor allem Käse und Milch gewünscht. Milch fliesst aber nicht jahrein, jahraus. Milch ist an die Geburt eines Zickleins gebunden. Eine Geiss gebiert ein bis zwei Jungtiere, von denen nicht alle in die Herde integriert werden können. In Abrahams Stall werden zu Weihnachten bis im Frühling ca. 160 Zicklein geboren. Sie behalten 20 weibliche Tiere, alle andern müssen geschlachtet werden und kommen als Ziegenfleisch auf den Markt.
Ziegenfleisch ist in der Schweiz nicht sehr verbreitet. Das hängt mit der geringen Menge zusammen, an der Vorherrschaft von Kalb- und Rindfleisch (eine politische Situation), auch mit dem alten Brauch, dass Ziegenfleisch an Ostern gegessen wird. Im natürlichen Zyklus der Ziege ist es tatsächlich so, dass Ziegen um die Weihnachtszeit ihre Zicklein bekommen, so dass sie just auf Ostern als Zicklein geschlachtet werden können. Wahrscheinlich ist Ziegenfleisch deswegen um die Osterzeit zur Tradition geworden, denn auch in nicht christlichen Ländern werden Zicklein im April am häufigsten verzehrt. Es bräuchte nun eine tolle Kampagne, wie Ziegenfleisch zu den Konsumentinnen finden kann, und zwar jahrein, jahraus. Im Moment ist es so, dass Ziegenfleisch fast ausschliesslich von Coop und Gebana und in Hofläden während des ganzen Jahrs verkauft wird und zwar tiefgefroren im Online-Shop. Man kann das Fleisch auch tiefgefroren im Buurelädeli «Geiss-Puur» bei Ladina kaufen, ein Ausflug nach Pany lohnt sich auf jeden Fall.
Ziegen produzieren keine Jauche und so auch wenig Methan und damit sind Ziegen äusserst umweltfreundlich. Der Stall, so erklärt Ladina, könnte auch in einen Kuhstall umgebaut werden, sollten sie es nicht schaffen, mit den Ziegen über die Runden zu kommen. Als Rückversicherung halten die Lötschers noch 16 Milchkühe, die vorwiegend von Hanspeter und Ladina betreut werden, während Abraham eine Ziegenherde etablieren sollte. Und so erfüllte sich auch der lang gehegter Wunsch Abrahams, eine Ziegenherde professionell aufzubauen.
Warum, so fragt man sich, sind (und bleiben?) Ziegen ein Nischenprodukt? Seit vielen hundert Jahren werden Ziegen gehalten und geschätzt. Von der Wichtigkeit der Ziegen zeugt zum Beispiel schon der Hirtengott Pan in der griechischen Antike. Er war nicht nur Hirte. Er symbolisiert die Verkörperung eines Mischwesens und präsentiert sich als Ziegenbock (Unterleib) und Mensch (Oberkörper), wobei aus dem Kopf prächtige Bocks-Hörner wachsen. Der Ziegenbock war Sinnbild von Männlichkeit, Potenz, aber auch Schrecken und Aggression.
In der Schweiz hat die Ziege eine geringe wirtschaftliche Bedeutung, auch wenn die Schweiz als Pionierin der modernen Ziegenwirtschaft gilt. Der Tierbestand beträgt 82’000 Tiere, davon sind 35’000 Milchziegen, im Vergleich zum «Rindvieh», das 2022 1,5 Milionnen Tiere zählte, davon 680’000 Milchkühe. Viele Ziegen werden auch in kleinen Trupps als Haustiere gehalten. Warum? Weil man sie mag, die neugierigen Fellnasen, auch weil sich die Bauern, wie die Lötschers, an das Grossvieh halten müssen oder an andere Erwerbsquellen, um sichere Einkünfte einfahren zu können.
Benötigtes Kapital
Der Aufstieg der Milchkuh und des Rindes begann im späten Mittelalter, als die Städte zu wachsen begannen und Städter und Städterinnen immer mehr Milch und Fleisch bestellten. Der Bauer war schon immer schlau und stellte relativ schnell von seinen Mischherden (Schweine, Schafe, Ziegen, Rinder) auf Milchkühe um. Getreideäcker wurden durch Weidewiesen ersetzt, aber – wie immer – brauchte es ein gewisses Kapital, um diese Umstellung zu bewerkstelligen. Bis anhin gab es Genossenschaften mit ihren Allmenden, ohne die die Bäuerin ihre Tiere nicht weiden konnte. Anfangs 19. Jahrhundert trennten sich die Grossbauern mit ihren eigenen Weidewiesen von den Kleinbauern, die nach wie vor auf die Allmend angewiesen waren. Milch, Butter und Käse war ein attraktives und gut bezahltes Exportprodukt geworden, das sich bis heute gehalten hat.
Um aber Grossbauer zu werden, brauchte es Kapital. Da Fleisch und Milch mehr und mehr gefragt waren, entwickelte sich die sogenannte «Viehverstellung», bei der Städter, auch Metzger, Darlehen anboten. Auch da kam es zu schlauen Auswüchsen: Der Versteller (Verpächter) gewährte dem Einsteller (Pächter) ein Darlehen, das in Form von Anteilen am Verkaufsertrag und an der Nachzucht zurückbezahlt werden musste. Für den Bauern bedeutete dieser Wucher oft den Ruin. Der Besitz seiner Herde ging an die Geldgeber über. Heute ist ein solcher Vertrag verboten. Oft aber kam es auch zu einer einfachen Viehverstellung. Da blieb der Versteller (Pächter) alleiniger Besitzer des Viehs.
Es fragt sich, warum es überhaupt Bergbauern gibt. Warum da oben, wo soviel Arbeit mit niedrigem Lohn geleistet werden muss? Die Alpwirtschaft geht ins 11. Jahrhundert zurück. Durch eine deutliche Erwärmung des Klimas [sic!] wurden erst die Ost- dann die Westalpen besiedelt. Wälder wurden gerodet und die Flächen wirtschaftlich genutzt. Im Hochmittelalter wurde das Bauern in der Ebene komplizierter, und so blühte der Bauernbetrieb in den Alpen auf. Früh wurden Genossenschaften gebildet, die bis heute Bestand haben. Wer in den Bergen aufgewachsen ist, will nicht mehr ins Flachland. Wie sagt Tell zu seinen Männern? «Da wohn’ ich lieber unter den Lawinen.»
Im Laufe der Jahrhunderte wiederholte sich die Geschichte des Unterlandes. Viel Land wurde verkauft, um etwas Bares zu bekommen. Auch Betriebe wurden verkauft. Der Tourismus brauchte Platz und Land, und so pachten Bergbauern heute ein Mehrfaches an Land, und die Bedürfnisse nach mehr Land werden grösser, da grössere Herden gehalten werden müssen, um dem Finanzierungsdruck standhalten zu können. Lötschers besitzen 8 ha eigenes Land und pachten 43 ha dazu.
Wertvolle Arbeit
Die Alpschaften sind genossenschaftlich geregelt. Wer eine Kuh auf die Alp gibt, bezahlt für jede Kuh eine Gebühr. Mit diesen Geldern wird die Alp bewirtschaftet, Strassen werden gebaut, Ställe saniert. Mit der Rückkehr des Wolfs kommen nun auch noch neue Auf- und Ausgaben dazu. Mischalpwirtschaften sind selten. Wieso das so ist? Ziegen sind Allesfresser und sie sind schnell. Sie würden den Kühen die frischen Gräser und Kräuter vor der Nase wegfressen. Es sind gerade diese feinwürzigen Gräser, die die Ziegen für ihre «Milchproduktion» benötigen. Im Prättigau gibt es mit der Alp Falla nur eine grosse Ziegenalp, die genossenschaftlich organisiert ist. Susan Grest als Milchlieferantin der Bio Käserei Prättigau sömmert dort ihre Ziegen. Im Sommer leben da 100 Ziegen auf 1800m während 100 Tagen.
Ziegen könnte man natürlich auch als Landschaftsgärtnerinnen einsetzen. Die Schweiz gibt jährlich sehr viel Geld aus, um das Verganden der Alpen zu unterbinden. Ziegen könnten wertvolle Arbeit leisten, wenn sie gegen die Vergandung eingesetzt würden. Dazu könnte man kastrierte Böcke und Ziegen beschäftigen, die für ihre Arbeit bezahlt würden, denn jetzt werden die jungen Böcke und Geissen, die nicht für die Milchwirtschaft ausgewählt werden, wie erwähnt, geschlachtet. Die «Vergandwirtschaft» der Böcke wäre wahrscheinlich eine erträglichere Sache als ihre Schlachtung.
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Grossviehaltung viele Probleme mit sich bringt. Es geht nicht nur um den Methanausstoss. Im Unterland werden gute Weidewiesen oft wirtschaftlich umgenutzt. Und die Rinder? Sie sollen ja weniger werden und da wäre doch die Bergziege ein interessanter Ersatz. Wer Bergziegen hält, liebt die Ziege und möchte sie fördern und ihr einen Sprung in unsere Milchwirtschaft ermöglichen. Der Weg dahin ist lang und steinig, aber die Ziegen mögen ja Steine und Felsen. Trotzdem. Einige Bergbauern haben sich aufgemacht, der Geiss einen Weg zu ebnen. Noch beherrschen Kuh und Rind den Markt und so wird es auch noch (lange) bleiben, aber die Nachfrage nach Ziegenmilch, vor allem aber Ziegenkäse nimmt zu. Wiederum sind es die Städter und Restaurants, die auf Ziegenkäse stehen, so sehr, dass der Schweizer Ziegenkäse die Nachfrage noch nicht decken kann.