Das Datum ist unverrückbar. Die irakischen Kurden beharren auf ihrem Referendum am 25. September. In Ankara ebenso wie in Teheran wächst deshalb die Nervosität. Die Türkei forciert die Annäherung an den Iran, der iranische Armeechef General Bagheri besuchte vergangene Woche mit neun seiner Generäle die Türkei. Neben der „Kurdenfrage“ hat die Islamische Republik ein weiteres nicht minder schwieriges Problem: die Absetzbewegung der irakischen Schiiten.
„Wer stoppt den Iran im Irak?“
Was suggeriert diese Frage? Behandelt sie eine ernste Gefahr, die so schnell wie möglich abgewendet werden muss, oder ist sie nichts als eine politisch motivierte Phrase, die nur durch ihre ständige Wiederholung zu einem echten Problem mutieren kann? Oder liegt die Wahrheit, wie so oft, irgendwo dazwischen?
Die Frage hat jedenfalls seit etwa sechs Wochen wieder Hochkonjunktur, genauer gesagt seit dem Nachmittag des 10. Juli, als Iraks Premierminister Haidar al-Abadi nach dem Ende der Schlacht um die Stadt Mossul den Sieg über den selbst ernannten „Islamischen Staat“ proklamierte. Zeitgleich mit dieser „Siegesmeldung“ tauchte weltweit auch eine weitere Frage auf – sie lautet: „Was kommt danach?“
Das Spektrum derjenigen, die diese Fragen stellen, ist weit. Es sind nicht nur Zeitungsleser und Journalisten, sondern auch Geheimdienstexperten, Militärstrategen oder Politiker, und sie kommen aus fast allen Teilen der Welt, vor allem aber aus den USA, Israel und den arabischen Ländern.
Kissingers Schreckensvision
Als sich Anfang August auch der 94-jährige Henry Kissinger, Urgestein der Washingtoner Machtdiplomatie, mit einer dramatischen Warnung und einer merkwürdigen Lösung in die Debatte einschaltete, war es offenkundig: Die Frage ist mehr als berechtigt, Gefahr im Verzug, die höchsten Kreise der Weltpolitik müssen aktiv werden.
Die Folgen einer Niederlage des IS könnten katastrophal sein: Es drohe ein iranisches Imperium, der US-Präsident dürfe das nicht zulassen, schrieb der ehemalige US-Aussenminister Kissinger auf der Webseite CapX, die vom Londoner Center for Policy Studies betrieben wird. „Unter diesen Umständen gilt die traditionelle Redewendung, laut der der Feind meines Feindes mein Freund ist, nicht mehr. In der gegenwärtigen Lage im Nahen Osten kann der Feind deines Feindes auch dein Feind sein“, korrigierte Kissinger das Volksidiom und breitete dann seine Schreckensvision aus.
Hoffen auf Russland
Würde das IS-Gebiet von den iranischen Revolutionsgarden oder vom Iran gelenkten schiitischen Kräften erobert, könne damit ein territorialer Gürtel entstehen, der von Teheran nach Beirut reiche. „Eine solche Entwicklung würde das Entstehen eines radikalen iranischen Imperiums markieren“, so Kissinger. Es hänge von Russland ab, ob es zu „dieser schrecklichen Vision“ komme oder nicht.
Diese fast apokalyptische Prognose wurde seitdem in so vielen Medien, vor allem in den arabischen, so oft wiederholt, dass die tausend Mal gestellte Frage, wer den Iran im Irak stoppe, keine abgenutzte Phrase mehr zu sein scheint. Im Gegenteil: Sie ist zu einem Auftrag, einer Aufforderung avanciert, endlich die Antwort zu finden.
Was ist des Rätsels Lösung?
So wählte vier Tage nach dem Erscheinen des Kissinger-Artikels die seriöse Nachrichtenagentur Reuters die „Wer-stoppt-Frage“ als Überschrift und versuchte, der Lösung ein Stück näher zu kommen. Der Autor des Reuter-Textes heisst Zaid Al Ali und ist unter den Kennern der Region eine anerkannte Autorität. Der vierzigjährige Harvard-Absolvent war nach dem Sturz Saddam Husseins fünf Jahre lang für die UNO als Rechtsberater tätig. Er schrieb an der neuen Verfassung seiner Heimat Irak mit. Verfassungsentwürfe schreibt man bekanntlich auf geduldiges Papier, wogegen sich die Realität, in diesem Fall die irakische, als viel ungeduldiger erwies als Alis Verfassungsvorstellungen. Später arbeitete Zaid Al Ali im UN-Auftrag an anderen Verfassungsreformen, die nach dem arabischen Frühling in Tunesien, Libyen oder Ägypten plötzlich auf der Tagesordnung standen. Auch in diesen Ländern blieben Al Alis Ideen leider zunächst nur Ideen. Denn dem Frühling folgte ja sehr schnell ein stürmischer Herbst und dann eine sehr dunkle Jahreszeit, die immer noch andauert. Doch Al Ali schreibt weiterhin fleissig und informativ über sein Heimatland und die arabische Welt insgesamt. Sein bislang letztes Buch trägt den Titel „The Struggle für Iraq’s Future“. Er beschreibt darin, wie Korruption, Sektierertum und Machtbesessenheit die Hoffnung auf Demokratie im Irak zunichte gemacht haben.
„Can Anyone Stop Iran From Taking Over Iraq?“, lautete die Schlagzeile für Al Alis Reuters-Text vom 15. August. In seinem kurzen Beitrag kommt er zu der Schlussfolgerung, dass es unwahrscheinlich ist, dass der Iran bald den Irak verlässt. Doch liefert Ali keine Fakten dafür, dass der Iran seinen Einfluss im Irak in den letzten Wochen und Monaten tatsächlich ausgedehnt hat. Zwar zitiert er einige schiitische Milizenführer, die vom Iran protegiert werden, doch das reicht nicht aus, um eine reale Ausdehnung der iranischen Macht in der letzten Zeit zu belegen. Und darum geht es Al Alis offenbar auch gar nicht. Im Gegenteil, er will schnell zu einer Lösung kommen: also dazu, wer den Iran stoppt. Und hier beginnt eine spannende innerirakische oder genauer gesagt innerschiitische Geschichte, die einem politischen und religiösen Erdbeben gleichkommt. Hier hätte sich der Autor länger aufhalten können.
Iraks Schiitenführer sagen sich von Teheran los
Denn nicht Russland, wie Henry Kissinger es sich wünscht, und nicht Amerika oder eine andere ausländische Macht stoppen in dieser Geschichte den Iran im Irak. Der Iran werde seit einigen Wochen von einer unerwarteten Macht gestoppt, mit der niemand gerechnet hätte, schreibt Al Ali: von den irakischen Schiiten, seinen einst engsten Verbündeten wie Moghtada Sadr, Ammar Hakim oder sogar vom irakischen Ministerpräsidenten al-Abadi. Dieser Prozess der Abkehr der einflussreichen irakischen Schiitenführer vom Iran ist lehr- und folgenreich zugleich. Fünfzehn Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins stehen viele irakische Schiiten vor einem Scherbenhaufen ihrer Politik. Erst jetzt begreifen sie, dass mit ihren Milizen, die vom Iran ausgerüstet und ausgehalten werden, keine originär irakische Nationalpolitik zu machen ist. Es ist eine späte Einsicht, die die tonangebenden Schiitenführer des Irak nun sehr spektakulär an den Tag legen.
Am 24. Juli waren es für viele arabische Fernsehsender sogar „Breaking News“, als sie verkündeten, dass Ammar al-Hakim, Chef des Islamischen Rats, den Rat verlässt, um eine neue Partei mit dem Namen „Weisheit“ zu gründen. Ammar al-Hakim ist einer der führenden schiitischen Politiker des Irak, Chef der grössten Fraktion im irakischen Parlament und Spross einer der bedeutendsten schiitischen Familien des Landes.
Der Oberste Rat für die islamische Revolution im Irak (SCIRI) wurde 1982 im Iran gegründet, um alle irakischen Oppositionsgruppen im Irak unter einem Dach zu sammeln. Und um dieses Ziel zu erreichen, scheuten die Machthaber in Teheran nichts. Geld, Waffen, Milizen und Militärberater, alles stand zur Verfügung, und sie hatten auch Erfolge vorzuweisen. Der Irak wurde zu einer Art politischem Protektorat des Iran. Nun scheinen die Zeiten dieses Erfolgs vorüber.
Offener Frontwechsel von Moqtada Sadr
Auch die Sadr-Bewegung, die Millionen von armen Schiiten in Bagdad und im südlichen Irak repräsentiert, hat sich inzwischen offen im anti-iranischen Lager eingerichtet. Moqtada al-Sadr, der Führer der Bewegung, besuchte Anfang August drei Tage lang demonstrativ Saudi-Arabien, den grössten regionalen Konkurrenten des Iran. Er wurde in Riad vom mächtigen Kronprinz Slaman mit allen Ehren empfangen und reiste weiter in die Vereinigten Arabischen Emirate, ein weiterer sunnitischer Staat, dessen Aussenminister regelmässig den Iran kritisiert. Demnächst will Moqtada Sadr in Kairo General Sissi treffen, um seine Distanzierung vom Iran zu verdeutlichen. Und bei all diesen Besuchen präsentiert sich der einstige Revolutionär mehr als Araber und Iraker denn als Schiit und hat offenbar nur eins im Sinn: seinen Abstand zum Iran, der stets grösser wird.
Einst war Moqtada Sadr der Lieblingsrevolutionär der Teheraner Machthaber. Iran war praktisch seine zweite Heimat; er hatte jahrelang in Qom, dem iranischen Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, studiert und hatte verwandtschaftliche Beziehungen zu den Spitzenpolitikern der Islamischen Republik. Aus Moqtada Sadr sollte so etwas werden wie Hassan Nasrallah, der Chef der libanesischen Hisbollah. Doch es kam alles anders. Heute fordert Sadr, der syrische Präsident Assad müsse abdanken.
Seit fast vier Jahrzehnten herrscht nun die schiitische Geistlichkeit im Iran und seit 15 Jahren setzt sie alles daran, dass auch der Irak, wenn nicht von Klerikern, so doch von schiitischen Parteien regiert wird. Doch nun überdenken die wichtigsten irakischen Schiitenführer ihre Politikwahrnehmung völlig. Sie nehmen langsam von der Idee einer schiitischen Umma Abschied und entdecken den Begriff Nation.
Ayatollah Al-Sistani, oberste schiitische Autorität im Irak, forderte kürzlich, der Irak müsse einen Zivilstaat schaffen, wenn man den Zerfall des Landes verhindern wolle. Das ist eine offizielle Absage an das iranische System der „Herrschaft des Gelehrten“. Und alle haben die Drohung der baldigen Unabhängigkeit der Kurden im Norden vor Augen.
Selbst der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi ist in den vergangenen Wochen bemüht zu zeigen, wie weit er sich vom Iran entfernt hat. Als er vor zwei Wochen der offiziellen Amtseinführung des iranischen Präsidenten Hassan Rouhani in Teheran demonstrativ fernblieb, wusste jeder, dass auch für Abadi eine ostentative Distanz zu Teheran überlebenswichtig ist. Inhaltlich hat sich Abadi längst von iranischen Positionen verabschiedet. Er ist für den weiteren Verbleib der US-amerikanischen Truppen in seinem Land, er tritt für enge Beziehung zu Saudi-Arabien ein und er will eine Auflösung der schiitischen Milizen erreichen.
Das kurdische Referendum kommt
Reicht diese radikale Kehrtwende der schiitischen Führer, um ihr Land vor dem Zerfall zu bewahren?
Ihre Umkehr komme zu spät, sagen manche Experten, denn in wenigen Wochen wollen die irakischen Kurden ein Referendum über die Trennung vom Irak abhalten. Diese Volksbefragung ist für den 25. September geplant, und alles deutet daraufhin, dass die Kurdenführer entschlossen sind, sie abzuhalten, koste es, was es wolle. Niemand, auch der Iran nicht, könne die Kurden daran hindern, dieses Referendum abzuhalten, sagte am vergangenen Sonntag Massud Barzani, Präsident des irakischen Kurdistans, in einem Interview mit der saudischen Zeitung Okaz.
Dieses Referendum im Norden des Irak hat das Potential, die politische Landkarte der gesamten Region weiter zu verändern und neue Kriege jenseits der irakischen Grenze zu entfachen. Allein die Ankündigung dieser Volksbefragung hat schon jetzt zu undenkbaren Allianzen geführt.
Eine neue türkisch-iranische Achse
Erstmals seit der Islamischen Revolution 1979 reiste in der vergangenen Woche Irans Armeechef General Mohammad Bagheri nach Ankara. Dort wurde er wie ein angesehener Gast hofiert, selbst Präsident Recep Tayyip Erdogan nahm sich für den General aus Teheran viel Zeit. Im Mittelpunkt stand das kurdische Referendum. Der iranische Armeechef erklärte nach seinen Gesprächen in Ankara, die Türkei und der Iran seien sich einig, dass der Volksentscheid im Nordirak der Sicherheit in der Region sehr schaden werde. Mit dem Referendum komme es zu einer neuen Welle der Spannungen und Konflikte im Irak, so Bagheri.
Die Machthaber in Teheran sehen in einem unabhängigen Kurdenstaat im Nordirak eine Bedrohung für die territoriale Integrität des Iran. Ein unabhängiger Kurdenstaat im Irak wird eine enorme Ausstrahlung habe. Auch Erdogan sieht es ähnlich. Der Ausbau der Allianz zwischen den USA und der Kurdenmiliz YPG im Norden Syriens ist für die Türkei wie für den Iran eine Entwicklung, die rasch gekontert werden muss.
Gemeinsame Militäraktion
In der vergangenen Woche war sogar von einem baldigen Einmarsch der türkischen Truppen in Nordsyrien die Rede. Dabei soll es zunächst um einen Angriff auf Rebellen in Idlib, dann auf die Kurden in Afrin gehen. Die regierungstreue türkische Zeitung Yeni Safak meldete am Freitag, der General aus Teheran habe den Türken ein koordiniertes Vorgehen in Idlib angeboten.
Die regierungsnahe Zeitung „Daily Sabah“ bezeichnete Bagheris Besuch als Meilenstein, der auf eine Annäherung in den Konflikten in Syrien und dem Irak hindeute. Und die iranische Nachrichtenagentur Irna nannte den Besuch „beispiellos“.
Anfang der Woche meldete Erdogan den ersten Vollzug: Die Türkei und der Iran wollten gemeinsam Handlungen gegen die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) und deren iranischen Ableger „Partei für ein Freies Leben in Kurdistan“ (PJAK) führen.
Den Machthabern in Teheran wehen derzeit viele Winde aus vielen Richtungen ins Gesicht. In Washington droht Donald Trump fast wöchentlich mit irgendwelchen Sanktionen, im Irak sind die Schiiten, die nicht mehr Teherans Befehlsempfänger sein wollen, und nun kommen die Kurden, die die Islamische Republik in einen Mehrfrontenkrieg und eine merkwürdige Allianz zwingen. Die Frage, wer den Iran stoppt, ist derzeit jedenfalls nicht so dringend, dass man Russland zu Hilfe bitten müsste. Henry Kissinger dürfte beruhigt sein.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des iranjournal.org