Da kommt er aus Shanghai angereist, und was erwartet Lorenz Helbling hier in Zürich? Regen, Kälte, Nebel und ein heftiger Gewittersturm, der das Wasser über den menschenleeren Sechseläutenplatz hinwegpeitscht. Lorenz Helblings mitreisender kleiner Sohn Julian rückt näher ans Fenster, um das Spektakel besser verfolgen zu können. Vater Helbling nimmt’s gelassen. Da hat er schon ganz andere Stürme erlebt, nicht nur meteorologische. Denn schliesslich erwartet ihn in der Schweiz weit erfreulicheres: Die «Art Basel» und «The Crocodile in the Pond», eine Ausstellung chinesischer Kunst in der prächtigen Klosteranlage St. Urban, in der Nähe von Luzern.
Lorenz Helbling ist Galerist. Der erste, der aus der Schweiz nach China auszog, um sich mit chinesischer Gegenwartskunst zu befassen. Dass er damit Erfolg haben würde, war damals vor zwanzig Jahren alles andere als garantiert. Aber offensichtlich hatte Helbling schon frühzeitig das richtige Gespür. Für das Studium und für die Kunst. Lorenz Helbling stammt aus Brugg, der Vater war Kunstmaler, ein Bruder von Lorenz malt ebenfalls und hat sich in New York niedergelassen. Die Kunst liegt den Helblings also irgendwie im Blut.
Augen-Öffnungen
Lorenz Helbling studierte neben Kunstgeschichte noch Sinologie - auch in Shanghai -, schloss in der Schweiz ab und kam durch seine Liebe zum chinesischen Film nach Hongkong. Und schliesslich wieder nach Shanghai. «Shanghai war schon damals eine riesige Stadt, viele gute Künstler waren dort, aber keine einzige Galerie. Von daher war es relativ einfach, eine Galerie zu gründen, aber es gab zu dieser Zeit überhaupt noch keinen Markt», erzählt Helbling rückblickend. Aber in die Kunstszene war Bewegung gekommen. «Unter Deng Xiaoping gab es in den Achtzigerjahren eine ‘new wave’, es gab Informationen über neue Kunst, es gab Zeitschriften, da ist eine richtige Experimentier-Bewegung durch China gegangen, von Peking über Szechuan bis Shanghai. Direkt nach der Kulturrevolution, während der es ja keinerlei Informationen über westliche Kunst gab, war sogar Impressionismus für chinesische Künstler noch etwas ganz Modernes», sagt Helbling. «Alles war neu, alles musste entdeckt werden und die Künstler spielten mit diesen Ideen, die nun über sie hereinbrachen». Und die chinesische Tradition zu entdecken, auch das war für Chinesen neu, denn zuvor war alles zerstört worden.
«Plötzlich öffneten sich unglaublich viele Möglichkeiten in der Kunst. Es waren ‘Augen-Öffnungen’, denn auf der Akademie ist es um gutes Zeichnen und Abzeichnen gegangen, aber nicht um Kreativität», so Helbling. Chinesische Künstler haben sich damals nicht gefragt, was westlich und was chinesisch ist in der Kunst. «Sie waren in einer ganz speziellen Situation: die Vergangenheit war aufgelöst, die Gegenwart unsicher und die Zukunft völlig offen. Die Künstler haben sich damals als Avantgarde gesehen und sich Fragen über ihre Identität gestellt».
Als Lorenz Helbling seine Galerie «ShanghART» vor nunmehr zwanzig Jahren in Shanghai eröffnete, ist er voll in diesen Aufbruchs-Strudel geraten. Und viele Künstler, die er damals entdeckte, gehören noch heute zu seiner Galerie und sind gute Freunde Helblings geworden. Hat er sie damals auch ein bisschen angeleitet in dieser Umbruchsphase? Helbling winkt ab. «Nein. Ich bin Entdecker und Beobachter. Ich nehme keinen Einfluss auf die Künstler. Ich lasse mich gern überraschen, denn diese Künstler finden Lösungen für ihre Werke, die für mich völlig neu sind, sie leben in einer anderen Welt».
Chinesische Kunst als Teil der Gegenwartskunst
Dass sich in China zu dieser Zeit eine neue Kunstszene heranbildete, hat man im Westen erst 1999 so richtig wahrgenommen. Damals hat legendäre Ausstellungsmacher Harald Szeemann chinesische Künstler an die Biennale nach Venedig gebracht. «Wichtig war, dass Szeemann sie nicht als ‘chinesische Künstler’ präsentiert hat, sondern auf gleicher Ebene wie westliche Kunst. Er hat damals sogar den italienischen Pavillon dafür geöffnet. Szeemann ging es nicht darum, das exotische China zu präsentieren, sondern chinesische Kunst wurde Teil der Gegenwartskunst».
Als Galerist hat Lorenz Helbling natürlich auch mit Kunstsammlern zu tun, mit den Käufern. Und auch da hat sich einiges verändert in China. Während die neue chinesische Kunst zunächst bei westlichen Käufern gefragt war, sind es nun Chinesen, die sich für Kunst aus dem eigenen Land interessieren. «Sie sind neugierig und haben zum Teil ein enormes Wissen». Und sie haben Geld… denn auch chinesische Kunst ist teuer geworden…
Lorenz Helbling hat diese spannende Zeit voll miterlebt und ist seit Jahren eine treibende Kraft im chinesischen Kunstmarkt. Dass er auch mit Uli Sigg zu tun hatte, der während dieser Zeitspanne zum grossen Sammler chinesischer Kunst wurde, ist naheliegend: zwei Schweizer in China, die beide schon früh das Potenzial chinesischer Gegenwartskunst erkannt haben. «Als Uli Sigg zu sammeln begonnen hat, haben wir viel mit unseren Künstlern zwischen Shanghai und Peking zusammengearbeitet. Das war eine gute Zeit…..», erinnert sich Helbling und so sind in der Sammlung Sigg auch etliche Künstler Lorenz Helblings vertreten.
Ein komisches Riesendorf
An der «Art Basel» ist Helbling seit 2000 dabei. «Dieses Jahr haben wir zwei spektakuläre Werke in der Abteilung ‘unlimited’. Am Stand ist es ruhiger, sagen wir mal so. Wir haben Arbeiten von ein paar jüngeren Künstlern, Arbeiten, die vielleicht erst auf den zweiten Blick ihre Wirkung entfalten…» In Basel hat Helbling seine Stammkundschaft, aber auch immer wieder neue Interessenten, die lieber an die «Art» kommen, statt nach Asien zu reisen.
Zwanzig Jahre «ShanghART» kann Helbling dieses Jahr feiern. Er tut dies mit einer neuen, grösseren Galerie in Shanghai und mit der Ausstellung in St. Urban/Luzern, die elf «seiner» Künstler bestreiten. «The Crocodile in the Pond». Ein interessanter Titel für die Ausstellung. Er suggeriert, dass da ein kraftvolles, bissiges Wesen im Teich schwimmt, vielleicht sieht man es schon, vielleicht ist es noch unter Wasser. Es ist also keine harmlose Kunst, die hier in der Klosteranlage gezeigt wird, sondern Kunst mit Biss.
Und wie ist es für Lorenz Helbling, wenn er aus der Mega-Stadt Shanghai wieder mal in der Schweiz ist? «Die Luft ist besser», sagt er spontan. «Als ich vor dreissig Jahren zum ersten Mal nach China gereist bin, kam ich in ein Velo-Land. Ich fahre übrigens auch heute noch nicht Auto…. Shanghai ist seither eine ganz andere Stadt geworden. Und trotzdem ist es manchmal wie ein Dorf. Man kennt sich innerhalb seiner Kreise und manchmal habe ich das Gefühl, in jedem zweiten Haus schon mal einen Künstler ausgestellt zu haben. Shanghai ist eigentlich ein komisches Riesendorf….»
«The Crocodile in the Pond»
11 Artists from ShangART Gallery
Museum St. Urban / Luzern
Bis 26. Juni 2016
«Art Basel»
16. – 19. Juni 2016