Es ist Skulptur, es ist Minimal Art, es ist serielle Kunst, man könnte es auch Konzeptkunst nennen – aber vor allem ist es ein Werk ganz eigener Art. Der 1935 geborene Amerikaner Walter de Maria hatte «The 2000 Sculpture» 1992 nach zehnjähriger Entwicklungs- und Vorbereitungszeit auf Einladung Harald Szeemanns zum ersten Mal im grossen Ausstellungssaal des Zürcher Kunsthauses gezeigt. 1999/2000 war sie dort ein zweites und nun ist sie ein drittes Mal zu sehen, erneut in dem Saal, für den sie geschaffen wurde.
Die Zahl 2000 bezieht sich zunächst auf die Anzahl Teile, aus der die riesige Bodenskulptur gefügt ist. 20 Reihen mit je 100 Gipsbarren von 50 cm Länge, 18 cm Höhe und drei verschiedenen Typen von Querschnitten: Fünfeck, Siebeneck und Neuneck. Die variable ungerade Zahl der Kanten sorgt für eine bewegte, mit dem Lichteinfall unterschiedlich spielende Oberfläche. Wechselndes Tageslicht ist der Atem, der die Skulptur belebt. So kommt zur abstrakten Strenge von Raster und Kombinatorik der natürliche Zyklus der Tageszeiten und die unkalkulierbare Wirkung von Sonne und Wolken. Auf künstliche Beleuchtung wird ganz verzichtet; Oberlicht und Fenster sind die alleinigen Lichtquellen und sorgen dafür, dass «The 2000 Sculpture» immer wieder anders aussieht.
In der Entstehungszeit des Werks war die Zahl 2000 Chiffre einer optimistischen Zukunftserwartung. Was versprach man sich nicht alles von diesem Jahr 2000! Auf ihre Weise hat auch Walter de Marias Kunst Teil an dieser ungestümen Erwartung. Sie will mit ganz neuen Arten des Kreativen zu Erfahrungen des Schönen, ja eigentlich des Erhabenen gelangen. Dieser zentrale Begriff der klassischen Ästhetik mag durch Übernutzung in Misskredit geraten sein; in der Begegnung mit Walter de Marias Werken bietet er sich dennoch an.
Als ich 1992 «The 2000 Sculpture» zum ersten Mal sah, hatte ich tatsächlich das Gefühl von etwas berauschend Neuem und überwältigend Schönem. Ähnlich der Eindruck bei de Marias «The Vertical Earth Kilometer», der sich seit 1977 als Monument der documenta 6 auf dem Friedrichsplatz in Kassel befindet: Zusammengeschraubte Messingstäbe sind tausend Meter senkrecht in die Erde gesenkt; das obere Ende ist in eine schlichte Bodenplatte eingefasst. Die sichtbare Erscheinung dieses Land-Art-Werks steht mit der Tatsächlichkeit des Objekts in einem Kontrast, der Schaudern macht – und der doch angesichts der Eingriffe des Menschen in die Welt so gar nichts Besonderes ist.
Drei Jahrzehnte nach der Erstpräsentation hat «The 2000 Sculpture» zwar die Assoziation mit dem elektrisierend-mythischen Jahr 2000 verloren, nicht aber ihre ästhetische Erhabenheit. Man steht wie gebannt vor den 2000 gipsernen Barren und vermag sie zwar wie die Töne einer musikalischen Komposition als Einzelphänomene zu erkennen, erlebt sie aber vor allem als Ganzheit, die unendlich mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile. Die Barren sind vom Tageslicht mal weich, mal hart modelliert, sie werfen Schatten und spiegeln sich gar im grauen Boden. Jeder Wechsel des Betrachtungsstandorts ergibt neue perspektivische Beziehungen, neue visuelle Effekte.
Die in Fischgrat-Ordnung millimetergenau ausgelegten doppelten Hunderterreihen bestehen jeweils aus Barren eines der drei Typen des Fünfer, Siebner- und Neunerquerschnitts. Sie sind in der Abfolge 5-7-9-7-5-5-7-9-7-5 angeordnet, also mit zweimal an- und absteigender Kantenzahl. Das Verhältnis von Barrenhöhe und Abständen ist so auf die Augenhöhe einer durchschnittlich grossen Betrachterin abgestimmt, dass in dem Feld von 20 Meter Breite und 50 Meter Länge die Barren auch in der Ferne gerade noch als geordnete Struktur und nicht als amorphe Masse wahrnehmbar sind.
Als Walter de Maria «The 2000 Sculpture» konzipierte, ausarbeitete und ein erstes Mal realisierte, gab es zur Art ihrer Herstellung keine Alternative: Das Werk spiegelte in seiner Machart die industrielle Massenproduktion. Das Prinzip, grosse Mengen einheitlicher Güter rationell herzustellen, war in den 80er-Jahren noch State of the Art. Mit der Digitalisierung wurde diese Wirtschaftsweise gleich zweifach überholt. Zum einen kann inzwischen auch die Massenproduktion individualisiert werden. Auf de Marias Bodenskulptur angewendet, würde das heissen, dass sie heute im 3-D-Druck in einem Zug produziert und von Robotern gelegt werden könnte. Zum anderen laufen immaterielle Güter der handfesten Wirtschaft mehr und mehr den Rang ab. Auch von einem Werk wie «The 2000 Sculpture» könnte es heute eine rein virtuelle Version geben, die ohne jede materielle Realisation einzig mit Virtual-Reality-Brillen zu besichtigen wäre.
Was wäre der Unterschied? Die Skulptur würde ihre Aura, ihre Erhabenheit, ja überhaupt ihren Werkcharakter verlieren. Sie wäre nur noch eine unter vielen seriell strukturierten Erscheinungen des Alltags, wie es Fassaden, Regale, Aufmärsche, Grossparkplätze oder Tabellen sind. Der Unterschied liegt in unserem Wissen um das künstlerische Wollen und Streben, das mit allen Subtilitäten und Anspielungen hinter «The 2000 Sculpture» steht und diese als vielschichtiges, komplexes Werk lesbar macht.
Zum besonderen Charakter dieser Bodenskulptur gehört auch der Umstand, dass sie einen der grössten stützenfreien Museumsräume vollständig in Beschlag nimmt und als einzelnes Werk zum alleinigen Gegenstand einer ganzen Ausstellung wird. «The 2000 Sculpture» ist zudem ein temporäres Objekt. Sie wird im Kunsthaus ein halbes Jahr lang zu sehen sein. Dann wird sie wieder abgeräumt und eingelagert. Ein Vorgang, der an tibetische Mandalas erinnert. Diese werden in monatelanger Arbeit in meditativer Konzentration mit puderfeinem gefärbtem Sand angelegt, nur um dann in einer Zeremonie als Symbol der Vergänglichkeit wieder zu verschwinden, allerdings in vollständiger Zerstörung.
Walter de Marias Werk hingegen wird nicht zerstört werden, sondern soll sogar eine dauerhafte Stätte bekommen. Die Besitzerin, die Walter A. Bechtler-Stiftung, will für die Skulptur auf dem Areal des Zellwegerparks in Uster eine dem grossen Kunsthaus-Saal ähnliche Halle errichten, um «The 2000 Sculpture» permanent ausstellen zu können. Man darf gespannt sein, was diese Verewigung mit dem Werk anstellt und ob die eigens gebaute Stätte nicht zum Mausoleum verkommt. Ein bisschen tibetische Demut trüge vielleicht eher dazu bei, das Kunstwerk lebendig zu erhalten.
Einstweilen aber ist «The 2000 Sculpture» ein Phänomen, das für ein halbes Jahr seine stupende stille Wirkung entfaltet, während nebenan der grandiose Chipperfield-Erweiterungsbau mit seinen neu präsentierten Sammlungen für Sensationen im Kunstbetrieb sorgt.
Kunsthaus Zürich: Walter de Maria, The 2000 Sculpture, 27. August 2021 bis 20. Februar 2022, Katalog CHF 22.—
Alle Fotos von The 2000 Sculpture: Urs Meier