Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag erhielt in der Schweiz seine besondere Bedeutung mit der Gründung des Bundesstaates 1848. Die Wunden des Bürgerkrieges um den Sonderbund waren noch nicht verheilt, die konfliktreiche Eidgenossenschaft politisch und konfessionell stark fragmentiert. Die unterlegenen katholischen Kantone standen dem jungen Bundesstaat ablehnend gegenüber.
Am Bettag sollten die Angehörigen aller Parteien, Konfessionen und Sprachen gemeinsam feiern. Ein wichtiger Schritt zur Integration aller Bevölkerungsteile im neu geschaffenen Bundesstaat und zum Respekt gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen. In der Schweiz ist der Bettag ein konfessioneller, vor allem aber auch ein staatspolitischer Gedenktag.
Früh übte sich unser Land in der Rücksichtnahme gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, anderen Landesteilen, im Einbezug von Minderheiten. Ohne föderalistische Staatsstruktur hätte die moderne Schweiz nicht geschaffen werden können. Die tagtägliche Suche nach austarierten und möglichst breit abgestützten Mehrheiten, nach dem Kompromiss zwischen widerstreitenden Haltungen und Meinungen prägte und prägt die politische Kultur der Schweiz.
Kultur als Scharnier
Kultur ist für mich in einem doppelten Sinne ein Schlüssel für die Zukunft. Einmal als Scharnier von Vergangenheit und Zukunft, aber auch als Wesenselement der schweizerischen Demokratie. Kultur kann verstanden werden als Pflege und Verbesserung der körperlichen, seelischen und geistigen Anlagen und Fähigkeiten des Menschen. Zur Kultur gehören Formen und Bedingungen des Lebens und Zusammenlebens, aber auch die leitenden Vorstellungen, die im Volk, in einem bestimmten Raum und einer bestimmten Zeit vorhanden und verankert sind. Zu denken ist etwa an Volksbräuche, an Kunst oder an Sport.
Kultur wächst in der Tradition. Kultur trägt bei zur Integration in der Gesellschaft. Wer seine Wurzeln kennt, kann besser verstehen, was heute geschieht. Kultur wächst aber über die Tradition hinaus. Sie kann in Frage stellen, Fenster öffnen, uns mit dem Ungewöhnlichen, manchmal auch Schockierenden konfrontieren. Kultur vermittelt Geborgenheit und Halt, ein Gefühl des Zuhause-Seins, der Heimat. Kulturelle Ressourcen vermitteln aber auch die Kraft, nach vorne zu blicken, Neues zu denken, Fenster der Unsicherheit zu öffnen und Risikobereitschaft zu entwickeln. Nur wer sicher ist, erträgt auch Unsicherheit. Und: Deutet nicht vieles darauf hin, dass heute seine feste Verankerung nicht gefunden hat, wer sich vor der Zukunft fürchtet? Kultur ist demzufolge eine unverzichtbare Voraussetzung jeder Veränderung und jeder Zukunft. Sie wird damit zur Klammer, welche die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet.
Damit sind wir mitten in der politischen Gegenwart angelangt. Können wir in der Schweiz offen und vorurteilsfrei über unsere Zukunft sprechen? Klammern wir uns nicht ängstlich an die Gegenwart, an das Gewohnte, an unseren Wohlstand? Scheuen wir nicht Veränderungen mit ungewissem Ausgang? Neigen wir nicht dazu, die Augen vor den grossen Herausforderungen unserer Zeit zu verschliessen?
Kultur im Aussenverhältnis
Nehmen wir als Beispiel unser politisches Verhältnis zum Ausland, zu den Geschehnissen und Entwicklungen auf internationaler Ebene. Seit langem ist eine überlieferte Vorstellung tief in uns verankert, es gehe uns dann am besten, wenn wir in Ruhe gelassen würden, wenn wir uns nicht einmischten in eine uns fremde Welt. Denn was draussen los ist, gehe uns nichts an. Alleine könnten wir alle Probleme, die uns bedrängenden, am besten lösen. Machen wir nicht schnell einmal einen grossen Bogen um die unangenehme Tatsache, dass die existentiellen Herausforderungen unserer Zeit wie Klima, Migration, Sicherheit und Energie nur zusammen mit anderen Staaten und im Rahmen internationaler Kooperationen angegangen werden können? Sind wir nicht Meister in der Verdrängung von nationalen und internationalen Entwicklungen, die unangenehm, gefährlich, schwer zu deuten sind? Immer im Vertrauen, oft im unbewussten Vertrauen darauf, der Kelch gehe an uns vorüber, ja letztlich gehe uns alles gar nichts an.
Wir haben oft Mühe, globale Herausforderungen frühzeitig zu erkennen, um auf ihre Auswirkungen vorbereitet und zeitgerecht reagieren zu können. Dass wir längst nicht mehr in der Lage sind, die Verteidigung unseres Lands autonom sicherzustellen, ja dass wir in fast allen Dingen auf Europa angewiesen sind – sind das nicht traurige Beispiele der Verdrängung?
Diese Binnensicht hat System. Die überlieferten Bilder des schweizerischen Sonderfalls, ja des Igels in einer Welt, die uns vor allem bedroht, geistern immer noch umher. Sie werden von einem Teil des politischen Spektrums nachhaltig gepflegt. Hinzu kommt bei uns eine Ambivalenz in der Selbstwahrnehmung. Diese schwankt zwischen Selbstüberschätzung eigener Möglichkeiten und Unterschätzung eigener Chancen. Ich nenne als Beispiel einer Selbstüberschätzung die illusionäre Forderung, die Schweiz müsse auf Augenhöhe mit der EU verhandeln. Werden da nicht die unterschiedlichen Macht-, Grössen- und Interessensverhältnisse verkannt? Wir brauchen Europa mehr als Europa uns. Anderseits wird der ohnmächtige Kleinstaat zelebriert, der in Europa ohnehin nichts zu sagen habe. David gegen Goliath. Wo bleibt das gesunde Selbstvertrauen jenseits von Überschätzung und Unterschätzung, das unsere eigenen Möglichkeiten, allein und vor allem gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten, das unsere Chancen mit ihren Grenzen zu ermitteln sucht?
Mythen wie Neutralität und Souveränität spielen in diesem Zusammenhang eine grosse Rolle. Auch die verzerrte und politisch instrumentalisierte Schweizer Geschichte. Vergessen wir nicht: Die Geschichte der Schweiz spiegelt sich in der Geschichte Europas. Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit waren in historischer Sicht eine Folge dieser Interdependenz, nicht autonom, auf eigenem Mist gewachsen. Wie es Peter von Matt formuliert: Unsere Heimat ist die Schweiz, die Heimat der Schweiz ist Europa.
Der Werdegang der Eidgenossenschaft von 1798 bis 1848 wurde geprägt von Staats- und Verfassungskrisen. Ohne Einmarsch der Truppen Napoleons gäbe es höchstwahrscheinlich keine Schweiz. Ohne Revolutionen in Europa Ende der 1840er Jahre auch nicht. Ohne den Mut und die Tatkraft führender Eidgenossen wie Ulrich Ochsenbein schon gar nicht. Warum spielt gerade diese Phase der Staatsbildung im nationalen Geschichtsdenken kaum eine Rolle? Warum hängen wir den Mythen rund um Wilhelm Tell nach, die uns Friedrich Schiller eingebrockt hat? Wäre nicht gerade in diesem Jahr, in dem wir 175 Jahre Bundesstaat feiern, auch der konfliktreiche Staatsbildungsprozess von 1798 bis 1848 in den Fokus zu rücken? Nur weil sich die Kantone damals auf einer höheren Ebene, im Bundesstaat vereinigten, überlebten sie. Nicht weil sie in absoluter Autonomie verharrten. Was sagt uns das heute? Zudem: Spielen sich auf europäischer Ebene zur Zeit nicht ähnliche Entwicklungen ab zwischen Zentralismus und Föderalismus?
Das Grundproblem unserer Aussenpolitik erblicke ich darin, dass die Schweiz nicht in der Lage ist, ihren Standort in Europa und in der Welt zu bestimmen. Dass wir lavieren und die interne Auseinandersetzung scheuen. Dass es uns nicht gelingt, uns auf unsere vitalen Interessen zu einigen. Wir finden uns rasch, wenn es um die Aufzählung dessen geht, was wir nicht wollen. Doch diskutieren wir offen darüber, was wir eigentlich wollen, was unsere vitalen Interessen sind? Warum ist im gegenwärtigen Wahlkampf Europa praktisch kein Thema?
Zur politischen Kultur
Kehren wir zurück zur Kultur, zur politischen Kultur. Vielfalt, ein Markenzeichen der Schweiz, bedarf der interkulturellen Verständigungsprozesse. Demokratie basiert aber auch auf Mehrheiten. Wie bei der Staatsgründung 1848 braucht es heute den Willen, Minderheiten mit ihren Interessen und Haltungen ernst zu nehmen, den Versuch, sie in breit abgestützte Mehrheiten einzubinden. Es liegt aber auch an den Minderheiten, sich einzubringen und einzufügen, wie es die katholisch-konservativen Kantone als Verlierer des Sonderbundskrieges in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgreich getan haben.
Heute sind Tendenzen zu beobachten, sich dem Verfassungskonsens zu widersetzen, eigene Haltungen über alles zu setzen und sich so der Demokratie zu verweigern. Ich denke etwa an gewisse Bewegungen der Corona-Leugner oder an Aktivisten der Klimabewegung. Müssen wir uns nicht fragen, wie ernst wir es mit der politischen Kultur als Nährboden und Bindeglied der Schweiz nehmen? Denken wir etwa an die drei grassierenden P: Polarisierung, Populismus und Polemik, an den prekären Stil politischer Auseinandersetzungen, der zu oft von Gehässigkeiten und Respektlosigkeit, ja von Drohungen, Anfeindungen und Hass geprägt wird. Denken wir an den prekären Stellenwert von Wahrheit und Faktentreue im Vorfeld mancher Volksabstimmungen, aber auch an den Vormarsch einer personalisierten und showmässig inszenierten Politik. Diese Tendenzen stellen für mich eine existenzielle Gefahr für unsere politische Kultur dar.
Kultur und Toleranz
Zur politischen Kultur gehört für mich auch Toleranz anderen Menschen und Haltungen gegenüber. Toleranz äussert sich in einer bestimmten Einstellung zum Anderssein – zu anderen Menschen, ihren individuellen, sozialen, kulturellen Eigenarten, ihren Werteinstellungen, Meinungen und Weltbildern. Die erwähnten Tendenzen zu einem menschenverachtenden Stil im politischen Alltag und zur Ausgrenzung von Gegnerinnen und Gegnern erachte ich als verheerend, gerade auch für unsere Demokratie. Ein menschlicher und mitmenschlicher Umgang ist für eine Demokratie essenziell. Gerade, aber nicht nur im Cyberspace hat sich die Kommunikation enthemmt und radikalisiert.
Toleranz beruht einerseits auf Offenheit und dem Bewusstsein der Vorläufigkeit aller Erkenntnis, andererseits auf der Anerkennung aller Menschen in ihrem unverzichtbaren Anspruch auf Menschenwürde. Toleranz ist anspruchsvoll, denn eine bestimmte Haltung kann eigenen Vorstellungen und Werthaltungen widersprechen. Deshalb hatte (und hat) sie es oft schwer in Glaubensangelegenheiten, wenn Einsichten in das «Wahre» als absolut und abschliessend gelten. Religiöse Konflikte veranschaulichen diese Unversöhnlichkeit bis in jüngster Zeit auf dramatische Weise.
Toleranz als humanitäres Gebot ist zweifellos Grundvoraussetzung jeder liberalen Demokratie. Liberale Toleranz ist mehr als Gleichgültigkeit, mehr als blosse Duldung anderer Überzeugungen, Glaubensansichten oder weltlichen Haltungen. Denn wer bloss duldet, geht von der Unumstösslichkeit der eigenen Wahrheit aus und neigt dazu, Andere gering zu schätzen. Wer tolerant ist, respektiert andere Meinungen und Werte und setzt sich mit ihnen auseinander.
Zum Gemeinsinn
Von der gelebten politischen Kultur ist es ein kurzer Weg zum Gemeinsinn. Gemeinsinn kann Verschiedenes bedeuten. Ich verstehe unter Gemeinsinn das Bestreben, über die eigenen Interessen und das nähere Umfeld hinauszudenken. Bei Entscheidungen die Folgen für andere Menschen und Menschengruppen, ja für die Allgemeinheit zu bedenken. Gemeinsinn ist eine ethische Grundhaltung, die Bereitschaft, sich auch für das Gemeinwohl einzusetzen. In einer überlieferten Begrifflichkeit stellt Gemeinsinn eine Bürgertugend dar. Hier wird der Bezug zur politischen Kultur deutlich: Demokratische Entscheidungen sind mehr als eine Summierung von individuellen Einzelinteressen. Sie beruhen auch auf Haltungen und Überzeugungen, die über das Egozentrische und das reine Eigeninteresse hinausgehen, die das «Gemeine» , das Gemeinsame, das für ein grösseres Kollektiv Relevante reflektiert.
Dieser Gemeinsinn ist Voraussetzung der Demokratie, er kann nicht verordnet werden. Er ist auch Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben in der Gesellschaft. Gemeinsinn spiegelt sich wider in der Dualität der Verantwortung als Selbstverantwortung und Mitverantwortung für andere Menschen und die Geschicke der Gemeinschaft. Es sind gesellschaftliche Vorstellungen, Kräfte und Bestrebungen, welche zur Bildung und Stärkung von Gemeinsinn beitragen. Man kann auch von einer aktiven Zivilgesellschaft sprechen. Von grosser Bedeutung ist das gemeinnützige Engagement vieler Mitmenschen und Organisationen, vor allem von Freiwilligen in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen. Als ehemaliger Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes weiss ich um die grosse Tragweite der Freiwilligenarbeit. Auch die Kirchen spielen dabei eine grosse Rolle – in der Pflege des Gemeinsinns, als Ratgeberin in ethischen Fragen, als Promotoren des Ausgleichs. Sie erfüllen mit ihrer gemeinnützigen Arbeit auch wichtige Funktionen im Dienst der Gesellschaft, vor allem für die Schwachen unter uns, und dies oft unter dem Radar einer breiteren Öffentlichkeit.
Wir brauchen kulturelle Ressourcen und Gemeinsinn, um die Schweiz voranzubringen. Zukunft braucht Herkunft, Vertrauen und den Mut, Ungewissheiten ertragen zu können und Neues zu wagen.
*Der vorliegende Text lehnt sich an eine Rede an, die der Autor an der Bettagsfeier in Arlesheim BL gehalten hat.