Wie gut war das "Kursbuch", das seinerzeit von Hans Magnus Enzensberger in Zusammenarbeit mit Karl Markus Michel vom Suhrkamp Verlag lanciert wurde, wirklich? Man müsste noch einmal in den Ausgaben jener Jahre blättern, um sich ein Bild zu machen. Aber auch ohne diese Mühe lässt sich eine Vermutung anstellen:
Nicht jeder Artikel hat seinen Verfasser unsterblich gemacht. Vieles dürfte heute so wenig von Belang sein wie die Zugverbindungen in den damaligen umfangreichen Kursbüchern der „Bundesbahn“. Es war ein offenes Geheimnis, dass das "Kursbuch" geschätzt wurde, ein unverzichtbares Accessoire in jedem halbwegs links eingerichteten Bücherregal war, aber es wurde nicht gerade heisshungrig verschlungen. Zeitschriften wie „Konkret“ sorgten für mehr Aufregung – übrigens auch optisch.
Kreative Ratlosigkeit
Man sollte sich diesen Stellenwert vor Augen führen, um den Neustart mit der Nummer 170 nicht mit Erwartungen zu überfrachten. Zu allererst gebührt dem noch jungen Murmann Verlag und ganz besonders Sven Murmann allerhöchstes Lob. Man legt sich nicht so ohne weiteres einen solchen Brocken ins Programm. Und wie muss er bearbeitet werden, um das heutige Lesepublikum anzusprechen?
Das Vorwort des Herausgebers Armin Nassehi und des Chefredakteurs Peter Felixbergers erweist die ganze Schwierigkeit dieses Projekts, eben weil die Autoren nicht zu überzeugen vermögen. Sie stochern in der Vergangenheit, sie staksen in die Zukunft, und für die Gegenwart fallen ihnen auch nur zahlreiche Worte ein. Aber das ist überhaupt kein Malheur. Denn in den Schächten ihrer Ratlosigkeit können Pflanzen gedeihen, die sie selbst noch gar nicht sehen. Wenn sie es schaffen, ein dafür passendes Biotop zu kreieren, erfüllen sie ihre Aufgabe wunderbar.
„Krisenkommunikationsmanager/in (DGfKM)“
Die vorliegende Ausgabe trägt den Titel: „Krisen lieben“. Die Nummer 171 heisst: „Optimieren“. Schaut man auf die Website kursbuch-online.de erscheint ein anderer Titel: „Besser optimieren“. Vielleicht lässt sich das Optimieren soweit verbessern, bis wir beim Optimalsten angekommen sind. - Auch an einem solchen banalen Lapsus zeigt sich die Schwierigkeit, das "Kursbuch" neu zu lancieren.
Drei Beiträge zeigen aber, dass das Engagement des Murmann Verlages nicht ins Leere laufen muss. Allen drei Beiträgen ist gemeinsam, dass sie das Thema Krise nicht in der vom Titel vorgegebenen Weise - „Krisen lieben“ - angehen. Unbeirrbar entwickeln sie ihre Gedanken und schaffen damit für die Leser einen schönen Gewinn.
Der Publizist Florian Rötzer beschreibt die Krise, in der sich die Medien befinden. Was er dabei zusammenträgt, ist nicht so fürchterlich neu, aber er macht Exkurse, die ebenso aufschlussreich wie amüsant sind. Denn er beschreibt Medien im Internet, die das Thema Krise schon im Domainnamen haben. Und er nimmt die zahlreichen Ansätze von „Beratern“ aufs Korn, die aus realen oder eingebildeten Krisen noch ein bisschen Honorar herausschlagen möchten, zum Beispiel als „Krisenkommunikationsmanager/in (DGfKM)“
"Eine Gefahr besteht nicht."
Beim Beitrag des Mathematikers und Betriebswirtschaftlers Gunter Dueck, bis 2011 „Chief Technology Officer“ bei IBM Deutschland, fällt einem schon nach wenigen Zeilen auf, wie fundiert dieser Mann denkt und argumentiert. Konträr zum Titel des Heftes hat er die Überschrift gewählt: „Ich hasse Krisen“. Der Grund dafür: Krisen führen immer zu falschen Reaktionen. So karikiert er ein typisches Argumentationsmuster der „Krisenkommunikation“: „Es strömt Gas aus. Da noch nicht bekannt ist, um welches Gas es sich handelt, ist es wahrscheinlich ungefährlich. Bitte schliessen Sie die Fenster. Eine Gefahr besteht nicht.“
Die Perle des Heftes
Der Aufsatz des Psychologen Wolfgang Schmidbauer über „Krisen der Psychotherapie“ ist die Perle dieses Heftes. Er beschreibt, wie im heutigen Wirrwar der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und unter dem enormen Erwartungsdruck der Klienten fatale Wechselwirkungen entstehen: Irreale Ansprüche der Klienten verbinden sich mit fragwürdigen Selbsteinschätzungen der Therapeuten. Und das Ganze wird dadurch potenziert, dass unsere Gesellschaft immer noch nicht gelernt hat, ein sachliches Verhältnis zu psychischen Problemen zu finden und auch auf diesem Gebiet eine entsprechende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. - Ans Ende seiner Ausführungen hat Schmidbauer eine kurze, aber sehr aufschlussreiche Bemerkung von Sigmund Freud gestellt.
Wenn es gelingt, in jedem der folgenden Kursbücher zwei oder drei Essays von ebenso herausragender Qualität zu präsentieren, wird dieses Unternehmen den verdienten Erfolg haben.
Kursbuch 170. Krisen lieben, Murmann Verlag, Hamburg 2012