Brown bereist gerade die Region in seiner Eigenschaft als Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für globale Bildung. Seinen Angaben zufolge besteht die Hälfte der ins Ausland geflüchteten vier Millionen Syrer aus schulpflichtigen Kindern.
Verlorene Jugend
„Die traditionelle Schulbildung ist durch das Netz gefallen, denn die gesamte humanitäre Hilfe fliesst in Nahrung und Unterkünfte für die Flüchtlinge“, sagte Brown. Aber auch in Syrien selber können wegen des Kriegs immer weniger Kinder eine Schule besuchen. Der Regionaldirektor des Uno-Kinderhilfswerke Unicef für den Nahen Osten und Nordafrika, Peter Salama, schätzte auf einer Pressekonferenz am Freitag die Zahl der von jeglicher Schulbildung ausgeschlossenen Kinder in Syrien auf drei Millionen.
„Das Land verliert eine ganze Generation“, warnte Salama. Syrien befinde sich auf dem Weg zu einem „gescheiterten Staat“. Längst ausgemerzt geglaubte Krankheiten wie Kinderlähmung tauchen plötzlich wieder auf. Unicef und die Weltgesundheitsorganisation führen gemeinsam Impfkampagnen durch, die aber nur begrenzt wirken, solange die Ursachen der Ausbreitung des Poliovirus weiter bestehen.
Angst vor der Zukunft
Als besonders schändlich verurteilte der Regionaldirektor von Unicef die von mehreren Kriegsparteien praktizierte Sperrung der Trinkwasserzufuhr. So haben in der Millionenstadt Aleppo die Regierungstruppen den im Zentrum eingeschlossenen Regimegegnern mehrmals den Wasserhahn zugedreht. Internationale Hilfswerke müssen jedes Mal versuchen, mit Tanklastern durch die Frontlinien zu gelangen.
Die begründete Angst vor einer aussichtslosen Zukunft treibt viele Jugendliche und Familien mit Kindern zur Flucht nach Westen. Das oft gehörte Argument, wonach die in die Türkei, den Libanon oder nach Jordanien geflohenen Syrer ja bereits auf sicherem Boden angelangt seien und dort auch bleiben sollen, zielt an den Realitäten vorbei. Die meisten Flüchtlinge würden gern in ihre Heimstätten zurückkehren. Voraussetzung dafür wäre das Ende des Kriegs und der rasche Wiederaufbau der zerstörten Städte. Leider stehen alle Signale aber auf Ausweitung der Kämpfe.
Ungebetene Gäste
Man darf den massgeblichen Regierungen zu Recht vier Jahre Untätigkeit vorwerfen. Weder ist eine Verhandlungslösung für den Syrienkonflikt in Sicht, noch will jemand menschliche Verantwortung für das Los der Flüchtlinge übernehmen. Die Zustände in den Flüchtlingslagern in Jordanien sind nach den Berichten der Hilfswerke katastrophal. Derzeit müssen 625.000 Menschen in einer Wüstengegend unter Zelten leben. In der Türkei und im Libanon werden die dort gestrandeten drei Millionen Syrien-Flüchtlinge zwar nicht in Zeltlagern zusammengepfercht, hausen aber mehrheitlich in prekären Unterkünften nahe der Grenze. Jeder möchte die ungebetenen Gäste so rasch wie möglich wieder loswerden.
Das Flüchtlings-Hochkommissariat der Uno (UNHCR), das Welternährungsprogramm (WFP) und Unicef müssen aus Geldmangel ständig ihre finanzielle Unterstützung und sogar die Essenrationen kürzen. Das WFP ernährt jetzt nur mehr die bedürftigsten Flüchtlingsfamilien in Jordanien. Seine Zuwendungen in Bargeld betragen einen halben Dollar pro Kopf und Tag. Von den bis Jahresende benötigten rund 4,5 Milliarden Dollar haben die Hilfsorganisationen der Uno bisher erst 1,8 Milliarden erhalten. Die Schweiz steuerte ganze 17 Millionen bei.
Schwieriger Zugang zu Kriegsopfern
Neben der Uno sind auch private Hilfswerke und insbesondere das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in und um Syrien tätig. Das IKRK wird zu einem guten Teil von der Schweiz finanziert und ist als unparteiische humanitäre Institution vorwiegend in den Kampfgebieten im Einsatz. Um aber Medikamente, Ärzteteams und Nahrungsmittel an die direkt vom Krieg betroffene Bevölkerung zu bringen, ist sie von der Mitarbeit des Syrischen Roten Halbmonds und den Bewilligungen der Behörden abhängig. Der schwierige Zugang zu den Kriegsopfern ist ein grosses Problem. Derzeit stehen dem IKRK zusammen mit seinen lokalen Partnern in Syrien neun mobile Kliniken zur Verfügung.
Nach Angaben der Uno stammt etwa die Hälfte der aus Nordafrika übers Mittelmeer nach Europa flüchtenden Menschen aus Syrien. Der Anteil der Syrer an dem Tross, der auf der Balkan-Route westwärts trampt, beträgt 70 Prozent. Es war ganz klar der Bürgerkrieg und die schlechte Behandlung der Ankömmlinge in den Erst-Asylländern, die diese Welle ausgelöst haben. Vorher gab es nur vereinzelt Syrien-Flüchtlinge.
Im Nahen Osten denkt natürlich jeder an das Schicksal der Palästina-Flüchtlinge, die nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1948-49 ihre Heimat verloren und deren Nachkommen noch heute zum Teil in Lagern leben. Die Mitglieder des Weltsicherheitsrats müssten diese Gefahr erkennen und alles daran setzen, den Krieg in Syrien zu beenden und das Land wieder aufzubauen. Sonst werden die einen zur verlorenen Generation und die anderen zu ewigen Flüchtlingen.