Es ist ein inzwischen gewohntes Bild – landesweit: Kilometerlange Schlangen vor den Tankstellen. Kleinbusse, große Reisebusse, Kleinlaster und große LKWs warten tage- und auch nächtelang auf Dieseltreibstoff. Fabriken schließen, weil Solar, wie Diesel in Ägypten heißt, inzwischen zu einer der am meisten gesuchten Ware geworden ist.
Mangelwirtschaft fördert blühenden Schwarzmark
Die Ursachen sind vielfältig: die Devisenreserven des Landes schwinden, die Regierung reduziert ihre Subventionen für Kraftstoff. Die Einfuhr von Mineralölen wird schwieriger, die Banken verweigern den früher üblichen „Letter of Credit", der es dem Käufer erlaubte, die Rechnung erst nach einiger Zeit zu begleichen. Derzeit ist Barzahlung verlangt.
Die Mangelwirtschaft hat einen blühenden Schwarzmarkt erzeugt. Dort muß man 25 bis 50 Piaster pro Liter mehr bezahlen. Einer Äußerung von Amr Mussa zufolge, dem früheren Außenminister und späteren Generalsekretär der Arabischen Liga, schuldet Ägypten ausländischen Ölfirmen mehrere Milliarden Dollar. Währenddessen sanken die Devisenreserven der Zentralbank auf 13,6 Milliarden Dollar - ein Betrag, der die Importe von nur etwa zwei bis knapp drei Monaten decken würde.
Enttäuscht von den Muslimbrüdern und der Demokratie
Seit Monaten verhandelt Ägypten mit dem Internationalen Währungsfonds um einen – eher mageren – Kredit von 4,6 Milliarden Dollar. Diese Summe würde ein paar Löcher stopfen – aber andere internationale Geldgeber stehen bereit, sollte der IMF den Kredit gewähren: die EU mit 6,3 Milliarden, die USA mit 500 Millionen. US-Banken wie Morgan Stanley und JP Morgan haben der „Egyptian General Petroleum Company“ zwei Milliarden Dollar versprochen, sofern der IMF grünes Licht für seinen Kredit gibt. Qatar gab bereits etwa fünf Milliarden Dollar, aber auch das reiche Emirat am Golf wird sich eine dauerhafte Subventionierung des darbenden 85-Millionen Volkes am Nil kaum leisten wollen.
Der Irak hat versprochen, Ägypten vier Millionen Fass Öl pro Monat zu liefern, dazu 4000 Tonnen Dieselöl täglich. Über die Zahlungsbedingungen wurde nichts bekannt.
Freilich, an vielen Ägyptern gehen diese Diskussionen vorbei. Sie sind enttäuscht von der Herrschaft der Muslimbruderschaft – und auch von der Demokratie. „Wenn Demokratie Mangel bedeutet“, sagt ein Mann in Luxor, der sonst vom Tourismus lebt, „dann will ich keine Demokratie.“ Während die Ferienorte am Roten Meer und in Sharm el-Sheikh noch Zuspruch finden, ist die Lage in den Touristenorten Luxor und Assuan triste – besonders, nachdem in Luxor der Absturz eines Heißluftballons fast 20 Tote gefordert hat.
Steigende Wut
Mitte der Woche begannen die Ladenbesitzer in den Basars und die Touristenführer einen Streik, sie fordern von der Stadtverwaltung den Erlass der Steuern und Gebühren, die sie für ihre Läden zu entrichten haben. Der Grund: Die Geschäfte sind fast am Nullpunkt angelangt, es gibt keine Einnahmen, von denen Steuern und Gebühren zu entrichten sind. Die Gräber im Tal der Könige wurden blockiert, ebenso der Tempel der Hatchepsut. Passagiere, die mit Reisebussen auf einer Tagestour aus Hurgharda am Roten Meer kamen, mussten auf die Besichtigung der Monumente verzichten.
Die Wut der Menschen steigt. Sie nimmt streckenweise anarchischen Charakter an. Oft werden in Oberägypten Passagierzüge blockiert. Auch kommt es vor, daß Bewaffnete Passagiere in den Zügen ausrauben. In der Deltastadt Damietta griffen Demonstranten das Gebäude der regierenden „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (der Muslimbrüder) an; sie protestierten damit gegen den Tod eines Mitglieds der Opposition. In Port Said kommt es fast täglich zu Protesten gegen die regierenden Muslimbrüder. Manche organisieren Kundgebungen, auf denen sie das Militär auffordern, die Macht zu übernehmen und der Unordnung ein Ende zu bereiten.
Keine Allianz zwischen Militärs und Muslimbrüder
Doch die Militärs zögern. Ihre Herrschaft nach dem Sturz Mubaraks ist ihnen selbst nicht in guter Erinnerung. Zwar warnt Verteidigungsminister al-Sissi schon mehrfach vor einem „Kollaps“ des Systems; aber den Beginn der Machtübernahme des Militärs war damit (noch) nicht verbunden. Immerhin: Die früher von vielen vermutete Allianz zwischen Muslimbrüdern und Militär scheint zerbrochen.
Auch wird der Versuch der Muslimbrüder immer deutlicher, ihre islamistische Ideologie dem Land aufzuprägen. In der mittelägyptischen Stadt Minia wurde das Denkmal des muslimischen Reformers Taha Hussein (1889-1973) attackiert, in der Deltastadt Mansura legten Unbekannte einen Schleier um den Kopf des Denkmals der berühmtem Sängerin Um Kulthum (etwa 1898-1975). Ein Professor der Kairoer Al-Azhar Universität verstieg sich zu der Aussage, Mitglieder der Opposition von der „Nationalen Rettungsfront“ seien antimuslimisch, man dürfe sie daher töten.
Englische Online-Zeitung muss schliessen
In Minia machten die Muslimbrüder einen Gynäkologen zum Gouverneur, in Assiut einen Kardiologen. Solche Personalentscheidungen müssen langfristig Kritik des Militärs hervorrufen, denn Gouverneursposten gingen unter dem Mubarak-Regime vornehmlich an pensionierte Generäle. In Minia mit seiner grossen christlichen Minderheit haben es, so berichten Christen, unverschleierte Frauen schwer, ein Taxi zu finden. Muslimische Taxifahrer zögen es vor, nur muslimische Frauen mit Kopftuch oder mit Vollverschleierung zu transportieren.
Und schließlich mußte der regimekritische Journalist Hani Shukrallah die Leitung der Online-Ausgabe der englischsprachigen Wochenzeitung Al-Ashram Weekly aufgeben. Der Druck der Muslimbrüder gegen ihn war zu gross geworden.
Alles unklar
Wie es in Ägypten weiter gehen wird, ist derzeit völlig offen. Präsident Mohammed Mursi hatte für Ende April Parlamentswahlen angekündigt – doch diese wurden von den Gerichten erst einmal wieder storniert: Das Wahlgesetz müsse überprüft werden, hieß es. Die schwache Opposition hat schon zum Boykott der Wahlen aufgerufen – und überläßt damit den Muslimbrüdern das Feld.
Die Muslimbrüder selbst haben offenbar nicht die Absicht, ihre Macht so schnell wieder abzugeben. In der Online-Ausgabe der Wochenzeitung Al-Ahram Weekly hiess es am 18. Februr 2013, Islamisten hätten die Tendenz zu Hegemonie und Dominanz. Dieser Defekt sei symptomatisch für das ärmliche Verständnis der Muslimbrüder von Demokratie. Diskussionen über Nachfolge, Pluralismus, Kooperation, Zivilgesellschaft gebe es unter den zahlreichen islamistischen Gruppen von den Salafisten bis zu den Jihadisten so gut wie gar nicht. Es sei auch kein Konzept zu sehen, wie die Islamisten sich den Transfer der Macht vorstellten, sollten sie einmal Wahlen verlieren.
Traurige Bilanz
Aber: „Die Nachfrage nach Religion bestimmt offenbar noch immer Aufstieg und Fall der islamistischen Strömung. Der religiöse Markt blüht in diesen Tagen. Das geschieht aber auf Kosten der Qualität.“ Ägypter seien fromm, heißt es in dem Text, der Bedarf an Religion sei hoch – der Nachschub an religiösen Angeboten durch die vielfältigen Gruppen sei entsprechend vielfältig. Doch es fehle an inhaltlicher Substanz.
Eine traurige Bilanz. Ägypten muß sich auf eine lange Periode islamistischer Herrschaft einrichten – wirtschaftlich arm und intellektuell dürftig.
Quellen: eigene Recherchen, Egypt Independent, Al-Ahram Weekly Online