«Ein Plädoyer für Verhandlungen» überschrieb Jürgen Habermas einen Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 14. Februar 2023, in dem er die Mitverantwortung des Westens für den weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine einforderte. Doch dieses Plädoyer lebt von Voraussetzungen, die in der Realität des russischen Krieges gegen die Ukraine nicht gegeben sind.
Vor einem Jahr mehrten sich die Anzeichen, dass Putin den Krieg gegen die Ukraine wahr machen würde. 150’000 Soldaten wurden an den Grenzen mobilisiert, in Kasachstan nahm das Militär einen Protest der Bevölkerung gegen die Regierung zum Anlass, eine Intervention unter echten Bedingungen zu üben, und am 24. Februar wurde der Krieg Realität. Angesichts der Anfangserfolge der russischen Armee verstärkten die westlichen Staaten ihre Waffenlieferungen. Sie halfen der ukrainischen Armee, die Angreifer zu stoppen und regional zurückzuschlagen.
Waffen für den Frieden
Die Aufrüstung der Ukraine dient in erster Linie dazu, zu verhindern, dass sich die russische Armee in der Ukraine festsetzen und durchsetzen kann. Die Aufrüstung ist grundsätzlich defensiv. Der Begriff «Sieg» ist daher im Zusammenhang mit dem Krieg, den Russland der Ukraine aufgezwungen hat, irreführend. Er bezeichnet im Grunde nur die angestrebte Tatsache, dass die russischen Armeen bei ihrem Vormarsch in der Ukraine besiegt werden sollen. Es geht nicht darum, Russland selbst zu besiegen. Das Ziel wird also nicht durch einen Sieg über Russland definiert, sondern durch die Verhinderung eines russischen Sieges über die Ukraine. Der Begriff «Sieg» steht also dafür, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf. Es macht jedoch keinen Sinn, die strategischen Optionen für die Selbstverteidigung der Ukraine auf die Begriffe «Intervention des Westens» oder «die Ukraine ihrem Schicksal überlassen» zu reduzieren. Eine Option wäre, aktive Selbstverteidigung mit expliziten politischen Forderungen zu verbinden, die sich der Westen zu eigen macht und für die auch in der internationalen Gemeinschaft geworben werden sollte.
Waffen an sich haben weder offensiven noch defensiven Charakter. Offensiv oder defensiv ist immer nur die Art und Weise, wie Waffen eingesetzt werden. Daher ist die Selbstverteidigung der Ukraine mit allen zur Verfügung gestellten Waffen grundsätzlich defensiv. Auch wenn Russland eine bestimmte Waffengattung als offensiv definiert und deren Lieferung als Überschreiten einer roten Linie propagiert, entspricht dies nicht der faktischen Realität und muss daher auch vom Westen nicht so gesehen werden. Russland hat nur so lange eine Definitionsmacht, wie diese von aussen anerkannt wird.
Parteilichkeit oder Voreingenommenheit
Die Parteilichkeit im Krieg Russlands gegen die Ukraine beruht vor allem darauf, dass das Recht der Ukraine, sich gegen den Angriffskrieg zu verteidigen, anerkannt wird. Mit dieser Anerkennung ist Hilfeleistung verbunden. Hilfe bedeutet nicht, sich mit einer politischen Position zu identifizieren, sondern dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Parteilichkeit ist also nicht notwendigerweise die politische Parteinahme für einen genehmen Akteur, sondern das Angebot einer Entscheidung auf der Grundlage eines Rechtsprinzips. Parteilichkeit bezieht sich auf die Parteinahme für die Einhaltung des Völkerrechts.
Wenn eine Hilfeleistung den Hilfeleistenden ermächtigt, über den Einsatz von Waffen mitzuentscheiden, und dadurch die Souveränität des Hilfeempfängers eingeschränkt wird, handelt es sich nicht um Hilfe, sondern um eine Instrumentalisierung im eigenen Interesse. Die Souveränität der Ukraine, die durch die Hilfe verteidigt werden soll, darf nicht durch die Hilfe selbst wieder eingeschränkt werden. Die Grenze ist dort erreicht, wo aus einer defensiven eine offensive und aggressive Haltung wird, die völkerrechtlich geächtet ist. Dies ist erst dann der Fall, wenn international anerkannte Grenzen überschritten werden und vor allem, wenn damit territoriale Gewinne verbunden sind. Die Alternative besteht nicht darin, durch Waffenlieferungen zur Kriegspartei zu werden oder durch den Verzicht auf Waffenlieferungen gegenüber Russland nachzugeben, sondern darin, militärische Unterstützung für ein Land, das seine Souveränität verteidigt, als völkerrechtskonforme Praxis zu definieren.
Legitime Waffenlieferungen?
Grundsätzlich ist die Forderung nach einer moralischen Mitverantwortung derjenigen, die Waffen liefern, berechtigt. Dies macht aber nur Sinn, wenn gleichzeitig die ursächliche Verantwortung für den Krieg explizit benannt wird, denn dann wird die Dimension der Verantwortung, die eine Waffenlieferung mit sich bringt, greifbar. Die Entscheidung Putins, einen Angriffskrieg zu führen, die Kriegsführung selbst und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen definieren so Umfang und Qualität der Waffenhilfe. Denn die Entscheidung, bestimmte Waffen zu liefern, folgt in der Regel einer Verschärfung der Kriegführung durch die russische Armee und ihre Milizen.
Ausgangspunkt für die Beurteilung der Legitimität von Rüstungshilfe an die Ukraine sollte daher weder das hiesige Eigeninteresse («wir zuerst») noch ein rein moralisches Urteil sein. Die Legitimität ergibt sich aus der Anerkennung des Rechts der Ukraine, einen Verteidigungskrieg gegen die russische Invasion zu führen. Legitimität besteht auch dann, wenn der angreifende Staat eine Atommacht ist und indirekt mit dem Einsatz seiner Atomwaffen droht. Waffenhilfe in diesem Fall als illegitim zu betrachten, hiesse, den seit 1945 geächteten Angriffskrieg zu rehabilitieren und den Atommächten Rechtsfreiheit zuzugestehen.
Ist die Zeit reif?
Der Verweis auf die angeblich späte Geburt der Ukraine als Nation erweckt den Eindruck, als entscheide der Zeitpunkt der Geburt einer Nation über ihre Legitimität. Dann wären auch Israel, Indien oder Pakistan noch werdende Nationen. Die Geschichte eines Staates sagt nichts über seine Legitimität aus. Der Souveränitätsanspruch der Ukraine unterscheidet sich daher in keiner Weise von dem anderer Nationen. Das Staatsgebiet, auf dem der Staat seine Souveränität ausüben und gegebenenfalls durchsetzen kann, ist durch international anerkannte Grenzen definiert, und auf diese muss sich ein Status quo ante bellum beziehen. Dieser ist im Falle der Ukraine nicht mit dem Stichtag 23.2.2022 gegeben, sondern mit dem Jahr 1999, als letztmals auch die Russische Föderation die Integrität der Ukraine bestätigte.
Ob die Zeit für Verhandlungen nach einem Jahr blutigen Krieges reif ist, wird in Moskau und Kiew entschieden. Angesichts der zu erwartenden Frühjahrsoffensive der russischen Armee sind Hoffnungen in der deutschen Öffentlichkeit auf baldige Verhandlungen, bei denen die deutsche Diplomatie eine wichtige Rolle spielen könnte, allerdings wenig realistisch. Zwar zeichnet sich auch am Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine keine militärische Entscheidung ab. Weder kann Russland hoffen, dass sein Angriffskrieg die hochgesteckten Ziele erreicht, noch kann die Ukraine hoffen, dass ihr Gegenkrieg zur Rückgewinnung der seit 2014 besetzten Gebiete führt. Unter diesen Umständen ist es richtig, ein Ende der kriegerischen Verwüstungen als Ziel zu definieren. Das setzt aber voraus, dass der Verursacher der Verwüstungen klar identifiziert und benannt wird. Und das ist Russland. Das Ende der Verwüstung kann also nur dadurch erreicht werden, dass der Verursacher dazu gebracht wird, seine Waffen niederzulegen und sich zurückzuziehen.
Betroffenheit der Unbeteiligten
Die von Habermas konstatierte «Verschiebung des Bewusstseins» betrifft hier nur diejenigen, die vom Kriegsgeschehen nur mittelbar betroffen sind. In der Ukraine selbst ist die Einsicht in die Notwendigkeit des Gegenkrieges selbstverständlich und allgegenwärtig, und auch in Russland ist die Zustimmung zum Krieg immer noch grösser als die Ablehnung. Wenn also von einem Bewusstseinswandel die Rede ist, dann bezieht sich das nur auf diejenigen, die nicht Opfer des Krieges sind, sondern glauben, durch Waffenlieferungen Opfer des Krieges werden zu können.
Das Recht, einen Gegenkrieg zu führen, ist völkerrechtlich ausdrücklich anerkannt. Die Aussage «Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren» bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als «Die Ukraine muss diesen Gegenkrieg erfolgreich beenden können». Das Führen eines Krieges aufgrund eines Angriffs jenseits der eigenen Staatsgrenzen ist geächtet und damit nicht gleichbedeutend mit einem Gegenkrieg. Ebenso wenig sind die Kriegsziele Russlands und der Ukraine äquivalent: Russland will die Annexion ukrainischen Landes, die Errichtung eines Protektorats über die Rumpfukraine und die Russifizierung der ukrainischen Kultur und Gesellschaft; die Ukraine dagegen will die Wiederherstellung ihrer staatlichen Integrität und Souveränität, Verhandlungen über Kriegsentschädigungen und die Überstellung der Kriegsverantwortlichen in Russland an ein internationales Tribunal.
Fehlende Äquivalenz
Auch die Grundentscheidung ist nicht gleichwertig: Russland will die Ukraine besiegen, die Ukraine will die russischen Invasoren besiegen. Deshalb ist es auch sinnlos, sich den Krieg als einen Konflikt zwischen zwei Kriegsparteien vorzustellen.
Aggressor und Angegriffener sind nicht äquivalent, sie haben keine Äquidistanz. Ein Kompromiss, der nicht auf Äquidistanz beruht, ist nur möglich, wenn alle Beteiligten diese Ungleichheit akzeptieren. Andernfalls könnte Putin einen vorübergehenden Kompromiss anbieten und der Ukraine zunächst einen Status ähnlich dem von Belarus zuweisen. Für Russland sind die Kriegsziele verhandelbar, Russland kann sie problemlos staffeln. Jetzt Annexion, später, wenn es die militärische Lage erlaubt, Putsch in der Ukraine und Errichtung eines Protektorats, das dann als Instrument der Russifizierung dient.
Für die Ukraine bedeutete ein Kompromiss in ihren Kriegszielen die Gefahr, ihre staatliche Eigenständigkeit zu verlieren und in den Sog russischer Interventionspolitik zu geraten. Wenn die westlichen Mächte nun die Sicherheit einer Ukraine garantieren sollen, die sich auf einen von Putin mit breiter propagandistischer Unterstützung von Sympathisanten in den westlichen Staaten erzwungenen Kompromiss eingelassen haben, riskieren sie eine noch viel tiefere Verstrickung in die russische Kriegspolitik. Dann bestünde die Gefahr, dass Russland einen Regimewechsel in der Ukraine herbeiführt und dabei die Stimmung ausnutzt, die eine Kompromissbereitschaft der ukrainischen Regierung ausgelöst hätte, und dass Russland jede weitere Unterstützung der Ukraine durch den Westen als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten bezeichnet. Dann hätten wir zunächst eine Wiederholung der Donbas-Szene, nur um das Fünffache vergrössert.
Russische Geopolitik
Es ist eine Illusion zu glauben, dass die geopolitische Gemengelage die Kriegsziele Russlands und die Ziele des ukrainischen Gegenkrieges ausgleicht. Putins Krieg ist ideologisch begründet. Die Ziele des Krieges sind Teil eines ideologischen Programms, das eine sehr groteske geopolitische Vorstellung beinhaltet und auf der Heilsvision einer Wiedergeburt Russlands beruht. Der Krieg dient dazu, die Grenzen dieses Krieges abzustecken, der Krieg selbst ist Teil der Wiedergeburt Russlands. Eine souveräne Ukraine hat in diesem neuen Russland keinen Platz. Das Russische gilt als wesentlicher und eigentümlicher Kern dieses Imperiums, es ist der Anti-Westen, zu dem auch Völker gehören, die sich niemals als Russen bezeichnen würden. In diesem Sinne soll eine russländische Nation entstehen, in der das Russische zur hegemonialen Titularnation wird, der sich zum Beispiel Tschetschenen, Georgier, Serben, ja sogar Rumänen und Griechen anschliessen könnten. Diese Vision ist der Rahmen der russischen Geopolitik, nicht die Struktur, die den Kalten Krieg bestimmte. Diese ideologische Ordnung nicht zur Kenntnis zu nehmen, könnte den Westen viel teurer zu stehen kommen als die Lieferung von Waffen, mit denen sich die Ukraine gegen ihre Zerstörung wehren könnte.