Es war schon seit einer Woche abzusehen. Die Zahlen liessen den Behörden keine andere Wahl.
270 Infizierte pro 100’000 Einwohner in Paris innerhalb von sieben Tagen, zwischen 150 und 200 in den Départements rund um die Hauptstadt. Und: In der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen sind es in Paris sogar 550! Die Zahlen sind im Lauf der vergangenen Woche nicht besser geworden.
Zum Vergleich: Im Nachbarland Deutschland schreit man bereits auf, wenn eben diese Zahl über 50 liegt, wie derzeit etwa in Berlin. Zwei deutsche Bundesländer wollen Reisende, die aus der Hauptstadt kommen, gar schon in Quarantäne stecken.
Herbeigeschriebene Empörung
Merkwürdigerweise konnte man in den letzten 48 Stunden gerade in deutschsprachigen Medien lesen und sehen, dass die Empörung der Pariser Bevölkerung über diese erneuten Einschränkungen und vor allem über die Schliessung der Bistros und Cafés sehr gross sei.
Man sagt sich, es muss wohl an den Strassenumfragen liegen, wo man als Journalist die Befragten gerne sagen lassen kann, was man hören will. Denn als Hauptstadtbewohner kann man diesen angeblichen Sturm der Entrüstung nicht nachempfinden und sagt sich, so blöd können die Pariser nun auch wieder nicht sein. Denn die oben genannten Zahlen sind einfach so, wie sie nun mal sind.
Buntes Treiben
Natürlich ist es für die Betreiber der Bistros ein Drama. Seit dem 11. Mai konnten sie endlich wieder hoffen, die vorangegangene zweimonatige Schliessung langsam zu überwinden und die Löcher in der Kasse zumindest teilweise zu stopfen.
Doch es hilft nichts. Man hat es schliesslich seit dem 15. September selbst immer wieder mit eigenen Augen gesehen. In manchen angesagten Pariser Vierteln, so im 11. Arrondissement rund um die Rue Oberkampf oder in der Rue des Abbesses auf der Südseite des Montmartrehügels, ja selbst vor der eigenen Tür. Eine Freundin, die auch in anderen Arrondissements der Stadt viel zu Fuss unterwegs ist, berichtet nichts anderes: Auf den Terrassen der Bistros sassen die Leute, ganz überwiegend 20- bis 40-Jährige, fast aufeinander und kaum noch nebeneinander. Und nix da von Abstand und Gesichtsschutz. Zum Teufel damit. Sie spuckten, lachten und schrien sich bis Mitternacht oder 2 Uhr früh ins Gesicht, als wäre alles wieder gut. Und die Freundin zu Fuss kam sich verständlicherweise etwas doof vor, wenn sie beim Vorbeigehen auf dem Trottoir, wie verordnet, die Maske trug und auf das bunte Treiben der Maskenlosen blickte.
Eine Obergescheite in einem dieser angesagten Viertel, um die dreissig, sprach an diesem Montag in ein französisches Fernsehmikrophon den Satz: „Die da, die können die Bistros ruhig schliessen, aber sie brauchen nicht zu glauben, dass wir uns nicht anderswo treffen.“ Mit anderen Worten, wir machen lustig weiter. Das ganze mit dem Beiklang: Der böse Staat will uns knechten, wir leisten Widerstand.
Angesichts der neuen Massnahme, dass Universitätshörsäle nur noch zu 50 Prozent belegt werden dürfen, klagte jetzt prompt der Rektor einer Pariser Universität, man dürfe nicht mit dem Finger auf die Studenten zeigen, ja sie sozusagen diskriminieren. Er sagt das, obwohl feststeht, dass ein Drittel aller Cluster in der Region Paris nun mal im Uni-Milieu festgestellt wurden. Darf man Letzteres nicht sagen? Soll das kein Grund sein, diese Massnahme zu ergreifen?
Doppelt benachteiligte Working Poor
Viele der von den Bistroterrassen Vertriebenen stellen jetzt gebetsmühlenhaft das Argument in den Raum, es gebe ja Orte, wo das dichtgedrängte Sitzen oder Stehen noch viel schlimmer sei, man schaue sich doch nur die Bilder von manchen Vorortzügen oder auf einigen Metrolinien an.
Stimmt. Doch zum einen tragen die Leute dort zumindest Masken. Und zum anderen – und das ist der grosse Unterschied – können diese Menschen nicht anders. Denn wer sind die Benutzer der meistbefahrenen Metrolinie 13 oder der S-Bahnlinie B auf der Nord-Süd-Achse der Grossregion Paris, auf denen die angesprochenen Bilder gemacht wurden? Es sind Hunderttausende von Working Poor, die in der Lichterstadt die Dreckarbeit machen und den schillernden Betrieb, gerade auch in dieser Krisenzeit, am Laufen halten. Mit ihren 1200 Euro im Monat haben sie seit Jahrzehnten keine Chance mehr, innerhalb der Pariser Stadtgrenze zu wohnen. Sie mussten daher fünf, zehn oder dreissig Kilometer ausserhalb eine bezahlbare Wohnung nehmen. Und sie können nicht, wie viele Pariser, eben mal ein Taxi rufen oder ihr eigenes Auto nehmen, sofern sie überhaupt eines haben.
Auch den Verkehrsbetrieben ist kein Vorwurf zu machen. Busse, Metros und Vorortbahnen fahren in einem Rhythmus, der nicht mehr zu beschleunigen ist.
Dichtest bewohnte Metropole Europas
Eines wird bei diesen Debatten über Schliessung oder Öffnung von Bistros und anderen Einrichtungen in Paris im Zusammenhang mit Covid-19 generell einfach zu wenig bedacht: Es gibt in dieser Stadt keinen Platz und somit auch keine Möglichkeit, Distanz zu halten!
Jeder Quadratmeter ist umkämpft und Gold wert. Paris ist mit Abstand die am dichtesten bewohnte Metropole Europas. Das 18. Arrondissement beispielsweise mit dem Tourismusmagneten Sacré-Coeur und Montmartre – wobei derzeit Touristen extreme Mangelware sind – erstreckt sich auf ganzen sechs Quadratkilometern. Und auf diesen sechs Quadratkilometern wohnen, auch ohne Touristen, mehr als 200’000 Menschen.
Preis der vorzeitigen Sorglosigkeit
Eines wird deutlich: Es will oder kann, zumindest in Paris, einfach nicht klappen mit der Eigenverantwortung, über deren Mangel in den letzten Monaten hierzulande so viel diskutiert wurde und die man gerade beim Nachbarn Deutschland zum Teil bewunderte.
Einer der Gründe dafür ist – und das gestehen dieser Tage gleich mehrere Minister hinter vorgehaltener Hand ein –, dass man den Sommer über die Zügel hat schleifen lassen. Zwischen Mitte Juni und Ende August lebten allzu viele Franzosen so, als wäre schon alles vorbei und hätte sich das Virus in Luft aufgelöst. Warnungen, dass dem nicht so ist, waren zu verzagt und verhallten weitgehend ungehört. Jetzt haben vor allem die Grossstädte Frankreichs die Quittung dafür.