Dass Religionen zu einer Gefahr für die Menschheit werden können, haben die Jahre seit Beginn des neuen Jahrtausends erneut eindringlich vor Augen geführt. Auf den ersten Blick scheinen es lediglich aussereuropäische Religionen zu sein, die Gefahren heraufbeschwören. Das Christentum scheint seine blutigste Zeit bereits hinter sich zu haben.
Gebrochenheit des Christentums
Harmlos ist es deswegen aber noch lange nicht. Auch wenn sich das Christentum in Gestalt der Kirchen an die demokratischen Gesellschaften Mitteleuropas weitgehend angepasst hat, steckt in ihm immer noch und immer wieder das Potenzial zu Orientierungen und Handlungsweisen, die mit demokratischen Regeln nicht vereinbar sind.
Die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München hat diesem Problem eine Veranstaltungsreihe gewidmet, in der diejenigen Denker zu Worte kamen, die derzeit als führende Zeitdiagnostiker gelten. Um die eigentümliche Gebrochenheit des Christentums im Hinblick auf demokratische Verfahren zu verstehen, sind subtile Untersuchungen nötig. Nicht alle Beiträge führen zu neuen Einsichten, wobei einzelne Autoren sich auch mit rein historischen Fragen und nicht-christlichen Religionen beschäftigen.
Neigung zum Phantastischen
Herausragend aber sind die Analysen des Theologen Friedrich Wilhelm Graf und des Soziologen Hans Joas. Beide legen dar, warum vom Christentum einerseits starke ethische Bindekräfte für die Demokratie ausgehen, auf der anderen Seite aber immer wieder die Gefahr besteht, den Boden demokratischer Prozeduren zu verlassen.
Religiöse Menschen haben eine „kaum kontrollierbare Neigung zum Phantastischen“ stellt Graf in Anlehnung an Georg Wilhelm Friedrich Hegel fest. Damit ist gemeint, dass religiöses Denken in Mythen, Geschichten und Bildern gründet. Religion ist also immer etwas anderes als rationales Denken. Aber die Religion denkt auch, was wiederum dazu führt, dass sie ständig unterschiedlichste Interpretationen hervorbringt.
„Religiöse Symbolsprachen sind eine Art mentaler Software, die sowohl Gutes und Wunderbares als auch Furchtbares, Grausames und Böses bewirken kann.“ Daher lässt sich beim besten Willen nicht behaupten, dass die christliche Religion gewaltfrei oder im Gegenteil gewaltsam, demokratisch oder undemokratisch sei. Alle Optionen sind offen, und man versteht dies nur, wenn man die Eigenart religiöser Vorstellungen berücksichtigt.
Sozialmoralische Ressourcen
Ausführlich schildert Graf, wie diesem Problem seit dem 17. Jahrhundert mit der obrigkeitlichen „Religionspolizei“ begegnet wurde. Man beobachtete also das Treiben der Geistlichen und ihrer Schäfchen, wann man nie ganz sicher sein konnte, weil braver Bürgersinn in Rebellion umschlägt. Umgekehrt konnte die Religion wichtige „sozialmoralische Ressourcen“ für die staatsbürgerliche Loyalität mobilisieren.
Der unbedingte Anspruch religiöser Überzeugungen lässt eben beides zu: Gehorsam und Aufstand. Sehr feinsinnig macht Graf klar, dass ein religiöses Bekenntnis zum demokratischen Staat nicht das Gleiche ist wie areligiöse oder ganz einfach rationale Loyalität. Denn religiöse Überzeugungen nehmen für sich einen höheren Wert als der bloss „prozedurale Formalismus“ rechtsstaatlicher Entscheidungsfindungen in Anspruch.
Fragwürdiges "Wächteramt"
Religiöse Loyalität zum Staat steht immer unter einem religiösen Vorbehalt. Entsprechend hat die Evangelische Kirche in Deutschland erst 1985, also 36 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes, in einer Denkschrift die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland als legitim und für sie verbindlich anerkannt.
Ein Widerspruch ist in den Augen von Graf prinzipiell nicht zu überwinden: Wie soll aus religiöser Überzeugung heraus der Staat als eine verbindliche Ordnung anerkannt werden, die selbst nicht religiösen Ursprungs ist? Pointiert formuliert er: „Religion kann nur durch Religion überwunden werden.“
Nach den Ausführungen von Friedrich Wilhelm Graf versteht man besser, warum Kirchenführer bis heute für sich ein „Wächteramt“ in Anspruch nehmen und sich berufen fühlen, zu allen möglichen Themen im hohen Ton der unwiderleglichen Überzeugung Stellung zu beziehen. Selbst wenn sie von diesem „Wächteramt“ aus Bekenntnisse zu diesem oder jenem demokratischen Grundsatz abgeben, ist man gut beraten, sich klarzumachen, dass die Basis für diese Stellungnahmen eine andere als die des religiös neutralen demokratischen Staates ist.
Autonome Moral
In den unterschiedlichen Stellungnahmen, die im Zuge der Veranstaltungsreihe der Friedrich von Siemens Stiftung zusammengetragen worden sind, lässt sich so etwas wie ein gemeinsamer Nenner feststellen: Die Religionen sterben nicht zu Gunsten der Säkularisierung ab. Man kann also nicht behaupten, dass die technisch-wissenschaftliche Rationalität auf ihrem Siegeszug die Religionen überwinden würde. Vielmehr zeigt sich, dass beide Grössen nebeneinander existieren und sich nicht in der Weise ausschliessen, wie man das sehr lange angenommen hat.
Vor diesem Hintergrund räumt der Soziologe Hans Joas aber auch mit religiösen Vorurteilen auf. So sei die Behauptung absolut falsch, dass der Mensch von Natur aus auf Religion angelegt sei. Die modernen Gesellschaften zeigten, dass viele Menschen wunderbar ohne Religion auskommen. Und es sei eben auch falsch anzunehmen, dass ohne Religion die Moral verfalle. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnten erweisen, dass auch in säkularen Gesellschaften ethisch hochstehende Normen und Werte relevant sind.
Idealbidung
Aber eben: Die Religion ist nicht einfach überholt oder abgelegt. Wie lässt sich ihre Vitalität verstehen? Hans Joas bezieht sich in diesem Zusammenhang auf erstrangige Denker des vergangenen und des vorletzten Jahrhunderts. William James, John Dewey, Josiah Royce in Amerika, der Soziologe Émile Durkheim in Frankreich, Georg Simmel, Max Scheler, Ernst Troeltsch und Max Weber in Deutschland haben die für den Menschen „typische Fähigkeit“ konstatiert, „sich das Ideale vorzustellen und es dem Wirklichen hinzuzufügen“.
In religiöser Sprache würde man von „Selbsttranszendenz“ sprechen, und vor kurzem hat sich auch der Philosoph Peter Sloterdijk mit diesem Phänomen beschäftigt: „Du musst dein Leben ändern“. Einfach ausgedrückt: Der Mensch braucht etwas, das ihn packt, das grösser ist als er selbst und an dem er sein Leben ausrichtet. William James stellte klar, dass „ein völliges Fehlen eines Bezugs zur Idealität beim Individuum mit schwärzester Depression gleichzusetzen“ sei.
Gemeinsame Riten
Das gilt auch für die Gesellschaft: „Zu einer Gesellschaft gehört zentral die Idee, die sie sich von sich selbst macht, und der sie nicht notwendig entspricht, aber zu entsprechen strebt.“ In den Augen von Hans Joas haben die Religionen in ihrem Kern diesen Prozess der Idealbildung. Deswegen wandeln sich die Ideale auch im Laufe der Geschichte. Wie aber gehen diese Prozesse jeweils vor sich? Joas verortet sie in Erlebnissen, herausragenden Personen und Ereignissen, die wiederum in gemeinsamen Riten erinnert und gegenwärtig gehalten werden. Die Idealbildung ist also nicht einfach ein intellektueller Prozess.
Da Ideale immer nur zeitweilig und vorläufig mit konkreten Eliten, also Schamanen, Priestern oder Herrschern gleichgesetzt werden können, steckt in den Religionen immer auch der Sprengstoff der Kritik und der Rebellion. Ganz wie Friedrich Wilhelm Graf sieht auch Hans Joas die tiefe Ambivalenz, die mit den unbedingten Ansprüchen von Idealen einhergehen. Entsprechend vielgestaltig und schwierig ist es für die Staaten, die Religionen für ihre Zwecke zu nutzen und gleichzeitig einzuhegen. Aus diesem Grunde haben alle Länder Europas – Amerika nicht zu vergessen – ganz unterschiedliche Gesetze für den Umgang mit religiösen Gemeinschaften.
Diagnose der Gegenwart
Á propos Amerika: Der deutschstämmige in Amerika lebende und lehrende Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht gibt in seinem einleitenden Beitrag Einblicke in die amerikanischen Eigenheiten, religiöse Überzeugungen mit politischen Optionen zu verbinden und gegebenenfalls wieder zu lösen. Andere Autoren beschäftigen sich eher mit Spezialproblemen, und Jürgen Habermas erklärt wieder einmal seine Theorie des kommunikativen Handelns am Beispiel der Vertreter der Religion, die sich heute als Diskursteilnehmer einer höheren Akzeptanz als in früheren Zeiten erfreuen können.
Der langjährige Direktor der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, der Philosoph Heinrich Meyer, hat mit seiner Veranstaltungsreihe und diesem Band einen wichtigen Beitrag zur Diagnose der Gegenwart geleistet.
Friedrich Wilhelm Graf, Heinrich Meier (Hg.), Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, 324 Seiten, Verlag C. H. Beck, München 2013