Tiere lernen durch Kopieren. Gerade in vergemeinschafteten Arten ist das Learning by Copying genau so wichtig, wenn nicht wichtiger als Trial and Error. Schon Darwin konstatierte bei Wanderratten – rattus norvegicus –, dass sie giftige Stoffe meiden, indem sie aktiv jene Stoffe suchen, die sie bei Mitratten als gedeihlich beobachtet hatten. Gewiss, die ersten Ratten, die durch Versuch und Irrtum mit dem Gift Bekanntschaft machten, zahlten mit dem Tod, aber ihre kopierenden Artgenossen entwickelten so etwas wie eine „Diät-Tradition“ durch soziales Lernen. Und dadurch errichteten sie nicht zuletzt auch ein Abwehr-Dispositiv gegen den gefährlichen Menschen, der ihnen ständig auf das Fell rücken will.
Learning by Copying
Solches Verhalten beschränkt sich nicht auf Ratten. Imitation ist quasi der natürliche Modus, Informationen zu speichern und weiterzuvermitteln. Man denke etwa an den Tanz der Honigbienen oder an die Futtersuche bei Vögeln. Affen zeigen ein Verhalten, dessen adaptiver Wert nur schwer zu erkennen ist. Statt Himbeeren zu fressen, pusten Orang Utangs sie vor dem Einschlafen durch die Luft; niemand weiss warum. In Costa Rica hat man Affenpaare beobachtet, die sich gegenseitig ihre Finger in die Nasenlöcher stecken und so minutenlang miteinander wie in Trance schunkeln. Ein Paarungsritual? Oder haben sie das irgendwo abgeschaut? Beim Menschen?
Evolution und Kopie
Kopieren scheint so etwas wie der Wurzelmechanismus von Kulturbildung im Tierreich zu sein, also des Tradierens von Verhaltensweisen und Fertigkeiten. Evolutionsbiologen beginnen den Wert des Kopierens zu erkennen. In einem Gespräch hat der britische Biologe Mark Pagel den Gedanken geäussert, dass die Evolution in den letzten gut 200’000 Jahren nicht die Innovatoren, sondern die Kopisten unter uns favorisierte: „Wir sehen uns gern als höchst erfinderische und innovative Spezies, aber die meisten von uns (haben) nicht Zeit und Energie in Erfindungen stecken müssen, sondern Nutzen aus dem ziehen können, was andere tun.“ (1)
Ein anderer Biologe, Kevin Laland, hat jüngst ein äusserst inspirierendes und instruktives Buch darüber publiziert. (2) Wenn man nach natürlichen, evolutionären Wurzeln der Kulturbildung sucht, so scheint der naheliegendste Mechanismus im Kopieren zu liegen. Bei der Partnerwahl etwa, so Laland, schauen Tiere oft, was andere tun. Man beobachtet dieses Verhaltenskopieren bei Insekten, Fischen, Vögeln, Säugern, einschliesslich Menschen. Wie Laland schreibt: „Die Tatsache, dass Tiere kein grosses Hirn zum Kopieren brauchen, wird sehr schön durch das Verhalten von weiblichen Fruchtfliegen demonstriert, die Männchen aussuchen, welche schon andere Weibchen als Partner gewählt haben.“
Strategien für die biologische Fitness
Schon bei Fruchtfliegen zeigen sich also Ansätze zu sozialem Lernen. Das ist ein Hinweis auf den natürlichen Ursprung von Kultur. Kultur bedeutet unter anderem ja Vervielfältigung und Tradierung von Verhalten. Nun gibt es Verhalten, das der Adaptation einer Art dient, und Verhalten, das ihr nicht dient, potenziell also die Art bedroht. Für Biologen stellt sich deshalb die Frage, die auch unter dem Namen „Rogers-Paradox“ bekannt ist: Warum ist Kopieren – soziales Lernen – derart weit verbreitet, wenn es doch sowohl zu gelingender wie auch zu misslingender Anpassung führen kann?
Vieles, was wir tun, machen wir falsch, und es ist offensichtlich, dass wir vermeiden sollten, falsches Verhalten zu imitieren. Die Frage ist also: Gibt es Kombinationen von Strategien? Gibt es optimale Strategien? Die Evolutionsbiologen entdecken die Spieltheorie. Laland studiert zum Beispiel anhand von Simulationen Kombinationen von drei Hauptstrategien: Innovation, Imitation und Exploitation, das heisst: das Lernen neuen Verhaltens, das Nachahmen von Verhalten anderer und das Ausnutzen-Verbessern von bestehendem Verhalten. Die Biologen spielen quasi Anpassungsturniere und beobachten, welche Kombination von Strategien sich als optimal herausstellt. Dabei machte man eine Schlüsselbeobachtung: In guten Strategien dominiert der Anteil des sozialen Lernens, also der Imitation, immer über Innovation und Exploitation. In schlechten Strategien dagegen führt das soziale Lernen auch zu schlechteren Spielausgängen. Nachahmen von unvorteilhaftem Verhalten erhöht die biologische Fitness einer Art nicht.
Kopieren verbindet und trennt uns von der Natur
Das klingt allzu sehr nach einer wissenschaftlich aufgepeppten Trivialität, und dennoch steckt darin eine Lektion: Soll sich aus der Biologie heraus eine stabile Tradition des Verhaltens entwickeln, ist Nachahmung eine unabdingbare Voraussetzung. Die Kopie ist die Wurzel der Kultur. Wenn aus genetischer Perspektive der Unterschied zwischen uns und unseren nächsten Verwandten, den Primaten, klein erscheinen mag, so wird dieser Unterschied zu einer wirklich tiefen Kluft, wenn man beobachtet, auf welch vertrackte und ausgeklügelte Art der Mensch kopiert.
So lässt sich die paradox anmutende Feststellung machen: Durch das Kopieren ist der Mensch mit der Natur verbunden und durch das Kopieren hebt er sich gleichzeitig himmelweit von ihr ab. In den Worten Pagels: „Man kann einen Schimpansen im Haushalt haben, der einem das Geschirr wäscht. Aber er wird ebenso fröhlich dreckiges wie sauberes Geschirr waschen, wenn man ihn dafür mit einer Banane belohnt.“ Menschen dagegen werden nicht sauberes Geschirr waschen, weil sie die „Belohnung“ ihres Verhaltens in etwas anderem sehen als in einer Banane: in Sinn und Zweck des Verhaltens. Genau das hebt sie aus dem biologischen Verhaltensrepertoire heraus.
Repertoire und Routine
Das eröffnet uns auch einen neuen Blickwinkel auf eher gering geschätzte Vermögen wie Routine und Repetition. Sie gelten ja als geistlos, unkreativ, mechanisch, als genau das, was wir auch bei anderen Tieren vorfinden. Dabei sind Routine und Repetition die Mütter des Kreativen. Sie bilden jene Tätigkeitsschleifen, die wir von anderen abschauen und selber erst einüben müssen, um gegebenenfalls aus ihnen ausbrechen zu können. Erweitern, Verbessern, Erneuern – kurz: Kreativität speist sich aus Kopiertem.
Koij Koyoda, Schüler des berühmten Musikpädagogen Shinichi Suzuki, gibt auf die Frage nach dem erstaunlichen Erfolg der Suzuki-Unterrichtsmethode die folgende Antwort: „Das Wort ‚Kopieren’ hassen alle Europäer, ich weiss. Aber wie sonst kann man ihnen ihre Muttersprache beibringen? Sie kopieren von der Geburt an alles, was die Eltern, Grosseltern, die Geschwister, kurz gesagt ihre Umgebung tut (...) Kopieren ist die Geburt von Kultur überhaupt.“
Arroganz des Westens: Die japanischen „Nachäffer“
Koyodas Worte bringen noch einen weiteren Aspekt des Kopierens zum Vorschein: Es gibt nicht nur einen Unterschied zwischen Mensch und anderen Tieren, sondern auch zwischen Menschen. Zum Beispiel existiert ein grosser kulturellen Hiatus zwischen westlichen und asiatischen Kulturen. In Asien rangiert Kopieren als Kulturtechnik höher als im Westen. Was unter anderem damit zu tun hat, dass die Wertschätzung kultureller Praktiken wie Malerei, Musik, Kochkunst oder Sportarten sich nicht so sehr an ihrer Originalität bemisst, als an ihrer Traditionalität. Sie werden bewahrt, indem man sie bewusst nachahmt. Die Japaner wurden von den Briten im 18. Jahrhundert als „japanzees“ – „Japansen“ – beleidigt, halb Menschen, halb Schimpansen. Noch im frühen 20. Jahrhundert unterstellte der französische Physiologe und Nobelpreisträger Charles Richet den Japanern einen primitiven kulturellen Status, weil sie alles „nachäffen“ würden.
Diese Verbindung von Kopieren und Primitivität schwingt im Übrigen nach wie vor in der Wahrnehmung der japanischen Kultur mit. Erst 2001 kehrte der Primatologe Frans de Waal diese Arroganz um, indem er in seinem Buch „Der Affe und der Sushimeister“ den fundamentalen Lernmechanismus des Nachahmens anhand der japanischen Küche illustrierte – wohlgemerkt, nicht in herabwürdigender Absicht. Wie de Waal schreibt: „Was auch die Wahrheit über die Erziehung zum Sushimeister sein mag, so liegt der Punkt darin, dass die wiederholte Beobachtung eines versierten Vorbilds haltbare Handlungssequenzen in unseren Kopf pflanzt, die einem manchmal erst viel später gelegen kommen, wenn man die gleiche Tätigkeit ausüben muss.“
Die Tücke des Kopierens
Wir sind geborene Nachahmer, Nachläufer, Nachbeter. Warum immer Neues erfinden, wenn Ähnliches überall herumliegt? Die Frage stellt sich umso gebieterischer, als heute das Angebot an Ideen und Innovationen riesig ist. Alle kopieren auf Teufel komm raus. Das zeitigt durchaus Konsequenzen in einer immer vernetzteren Welt, wo wir auch immer weniger auf kreative und innovative Fähigkeiten angewiesen sind. Während es in früheren Kleingesellschaften durchaus überlebensnotwendig war, bei Gelegenheit neue Instrumente und Verhaltensweisen einzuführen, so entlässt uns die hochtechnisierte Grossgesellschaft aus diesem evolutionären Kampf. Wir können das Geschäft der Innovation getrost einigen wenigen überlassen und uns im Komfort ihrer Erfindungen bequem einrichten. Wichtig ist, sich den neuen Technologien möglichst schnell anzupassen. Was zumindest tendenziell dazu führt, dass wir die in uns schlummernden kreativen Vermögen vernachlässigen und sogar verkümmern lassen. Wie Pagel schreibt, befinden wir uns heute an einem historischen Punkt, „wo wir durch solche soziale Big Things wie Facebook und das Internet domestiziert werden, (...), weil immer weniger von uns Innovatoren zu sein brauchen.“
Kreativität und Zufall
Einstein sagte einmal, er sei nicht intelligenter als andere, bloss neugieriger. Nun darf man in Einsteins Bescheidenheit immer auch Koketterie vermuten. Dennoch steckt in seinem Zitat der Schlüssel zu einem gewandelten Verständnis von Kreativität, wenn wir das, was er Neugier nennt, als ein Vermögen sehen, sich sozusagen in einem Pool von Denkmöglichkeiten zu tummeln und sie bis in ihre Verästelungen hinein zu verfolgen – Neugier als Lust am Ausprobieren und Durchspielen von Ideen. Diese Ideen können auch kopiert sein, sie können ebenso zufällig auftreten wie Mutationen auf genetischem Niveau. Entscheidend ist die Lust am Spiel mit Variationen – so wie die Natur „Lust“ am Spiel der Variation von Genmaterial hat. Von jemandem zu kopieren, sagt man, ist ein Plagiat – von vielen zu kopieren ist Forschung und die Voraussetzung von Neuem.
So gesehen, sind vielleicht auch die gekrönten Häupter der Imagination und Kreativität letztlich nicht viel innovativer als der Durchschnittsmensch. Nur haben sie mehr Glück gehabt. Vielleicht ist der Mensch ohnehin nicht das von der Evolution begünstigte intelligente Tier, als das er sich gerne sehen möchte. Und ebenso wenig wie er die Krone der Schöpfung ist, ebenso wenig bricht es ihm einen oder zwei Zacken aus der imaginären Krone, wenn er sich eingesteht, ein Kopist unter anderen zu sein. Viele mögen darin eine weitere Kränkung des Menschen sehen, aber wir werden auch sie überleben.
(1) https://www.edge.org/conversation/mark_pagel-infinite-stupidity. Siehe dazu auch sein Buch: Mark Pagel: Wired for Culture. Origins of the Human Social Mind. W. W. Norton, New York 2012.
(2) Kevin N. Laland: Darwin’s Unfinished Symphony. How Culture made the Human Mind. Princeton University Press, New Jersey 2017.