Man erinnert sich der berühmten Definition Benjamin Franklins, eines hoch erfinderischen Geistes, der den Menschen als das Tier bezeichnete, das Werkzeug fabriziert. Diese Definition gereicht dem Menschen zwar zur Distinktion im Tierreich. Sie wird freilich von Zoologen bestritten und beschreibt ohnehin bloss einen ganz kleinen Teil unserer Spezies.
Die Evolution favorisiert die Kopisten
Der überwiegende Teil erfindet nämlich nicht, schafft nicht Neues, sondern übernimmt von anderen, ahmt andere nach. Der Mensch, so möchte man Franklin korrigieren, ist viel eher das Tier, das Werkzeug kopiert. Das gilt übrigens nicht nur für Werkzeug, sondern für alle Hervorbringungen, zumal geistige. Zu dieser Einsicht kommen wir heute – wen wundert es – auch aus evolutionärer Perspektive.
In einem Gespräch hat der britische Biologe Mark Pagel den Gedanken geäussert, dass die Evolution in den letzten gut 200’000 Jahren nicht die Innovatoren, sondern die Kopisten unter uns favorisierte: „Wir sehen uns gern als höchst erfinderische und innovative Spezies, aber die meisten von uns (haben) nicht Zeit und Energie in Erfindungen stecken müssen, sondern Nutzen aus dem ziehen können, was andere tun.“
So gab es unter unseren frühmenschlichen Vorfahren sicher Tüftler und Bastler, die sich den Kopf darüber zerbrachen, wie man einen bessere Axt oder eine wirksamere Pfeilspitze herstellen kann, aber kaum waren diese Erfindungen im Gebrauch, versuchten sie andere zu reproduzieren, ohne den ganzen mühsamen Prozess des Erfindens noch einmal durchzumachen. „Soziales Lernen“ nennt sich das. Es hat uns entwicklungsgeschichtlich von den andern Arten weg in die Sphäre der Kultur hochkatapultiert.
Kryptomnesie, die unbewusste Übernahme
Spinnt man den Gedanken etwas weiter, liesse sich sagen, dass der technische Fortschritt das Kopieren zu einer „normalen“ Kulturtechnik werden lässt. Kopieren gehört zu unserer zweiten Natur. Das Internet macht nicht nur all das, was andere denken, sagen und tun, fast augenblicklich zugänglich, es macht es auch verführerisch leicht, das, was andere denken, sagen und tun, zu übernehmen und zu kopieren. „Machen als Nehmen,“ brachte das die amerikanische Fotografin Sherrie Levine einmal auf den Punkt. Sie bezeichnet sich selber als „appropriation artist“.
Könnte man sich daraus eine Billigung zurechtbiegen: Kopieren, Leute, ist gar nicht so anrüchig? Wir sind schon von Natur aus Kopisten! Man kann übrigens immer die Gesellschaft ganz Grosser apologetisch herbeizitieren. Newton, der auf den Schultern von Riesen stand; Goethe, der bekannte: „Wenn ich sagen könnte, was ich alles grossen Vorgängern und Mitlebenden geworden bin, so bliebe nicht viel übrig“; Thomas Mann, der sich als „höheren Abschreiber“ bezeichnete.
Die Psychologie kennt sogar ein hübsches Fachwort: „Kryptomnesie“ – unbewusstes Aneignen fremden geistigen Eigentums, das der Verwender später für eine Eigenleistung hält. Nicht zu vergessen auch der Spruch des amerikanischen Autors Wilson Mizner: „If you copy from one author, it’s plagiarism; if you copy from two, it’s research.“ Wer eine Dissertation geschrieben hat, wird das nicht schlankweg verneinen wollen.
Uncreative Writing
Neue Technologien verändern alte Kulturtechniken. Schreiben etwa, so könnte eine zeitadaptierte Definition lauten, bedeutet im digitalen Kontext die Betätigung zweier Computertasten: Copy + Paste. Es herrscht ein cooleres Verhältnis zum Kopieren. Ken Goldsmith zum Beispiel, Autor und Dozent an der University of Pennsylvania, hat kürzlich das Plagiat im digitalen Zeitalter als „Repurposing“ bezeichnet, also als Wiederverwenden. Sein Hauptargument ist auf den ersten Blick plausibel: Es gibt so viel Text im Internet, warum noch neuen hinzufügen?
Die eigentliche Arbeit liegt nicht im Produzieren von neuem Text, vielmehr im Sortieren, Filtern und Rekombinieren von abrufbarem Textmaterial, einer Art von Recycling. Herr Goldsmith lehrt ein Fach namens „Uncreative Writing“. „Studenten werden darin für jeglichen Anflug von Originalität und Kreativität bestraft,“ schreibt er, „belohnt werden sie dagegen für Plagiat, Identitätsdiebstahl, Umfunktionieren von Papers (repurposing), zusammengestückeltes Schreiben (patchwriting), Sampeln, Plündern, Klauen. Es überrascht nicht, dass sie gedeihen. Ans Tageslicht gebracht und im sicheren Umfeld der Klasse umgedeutet, sieht sich das, worin sie heimlich Experten geworden sind, auf einmal als etwas Verantwortungsvolles statt Rücksichtsloses an.“
Mashup als neue Kulturtechnik
In diesem Sinne plädieren heute Autoren wie zum Beispiel Dirk von Gehlen, das sogenannte „Mashup“ als neue Kulturtechnik zu akzeptieren. Die Idee ist nicht a priori von der Hand zu weisen. Denn machen wir uns nichts vor: Die meisten Schülerinnen und Schüler schreiben heute Texte in der definierten Weise, wenngleich klandestin. Warum sollten wir dies nicht einfach einmal als eine bestehende, durch die digitalen Medien geförderte Praxis akzeptieren und versuchen, das Beste daraus zu machen?
Möglicherweise entstehen daraus neue Formen kreativen Umgangs mit Texten, ein neues Schreiben. Solche Techniken sind in der Malerei oder in der Musik längst gang und gäbe. Beat-Autoren wie William S.Burroughs führten sie in den 1950er Jahren in die Literatur ein. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Lethem publizierte 2007 mit einiger augenzwinkernden Ironie einen Essay, der das Thema Plagiat behandelt, und aus nichts als Plagiaten besteht. Genauer: Er ist zusammengeschnipselt aus lauter offengelegten, leicht revidierten Zitat-Fragmenten. Der Text zeugt durchaus von einer Qualität sui generis, d.h. nicht von einer Könnerschaft im herkömmlichen schriftstellerischen Sinn, sondern von Könnerschaft des kreativen Kopierens sozusagen.
Neudefinition von Originalität
Natürlich ist das keine Apologie des Betrugs und geistigen Diebstahls. Wenn heute die Technologie das Kopieren leichter macht als je zuvor, muss man ganz einfach die Frage nach der Originalität im digitalen Kontext neu stellen. Dabei sollten wir uns als Erstes von der Sicht trennen, es gehe bei der Einführung neuer Kulturtechniken immer gleich um ein Entweder-Oder.
Eine Umwertung des Kopierens wäre umso angesagter, als die Kopie ja nicht immer und überall als minderwertig galt und gilt. In Asien rangiert sie höher als im Westen. Was unter anderem damit zu tun hat, dass die Wertschätzung kultureller Praktiken wie Malerei, Kochkunst oder Sportarten sich nicht so sehr an ihrer Originalität bemisst, als an ihrer Traditionalität. Sie werden bewahrt, indem man sie bewusst nachahmt, kopiert.
Man braucht übrigens gar nicht nach Asien zu blicken. Die mittelalterliche Praxis der klösterlichen Skriptorien in Europa mass dem Kopieren einen hohen Stellenwert bei. Die handschriftliche Wiedergabe von Manuskripten fördere die Kultur der Gelehrsamkeit, liest man etwa bei Johannes Trithemius in seinem „Lob der Schreiber“ (De Laude Scriptorum). Mönche sollten das Kopieren von Hand trotz der Druckerpresse weiter pflegen, weil es die müssigen Hände beschäftigt halte, zu Fleiss, Demut und tiefer Kenntnis der Schrift anrege; und auch die Schönheit, Lauterkeit und Individualität des kopierten Textes gegenüber der Fehlerhaftigkeit des Druckerzeugnisses hochhalte.
Urheberschaft ist graduell
Der Gegensatz von Original und Kopie beruht auf der Renaissance-Idee des individuellen Genies, das allein und autark aus sich selbst heraus schafft – eine Idee, die sich in der Folge zum Kampfinstrument in der Konkurrenz der Kreativität entwickelte.
Mit den Produktionsbedingungen, die das Internet diktiert, wird dieser Anspruch obsolet. „Je immaterieller ein Original ist, desto häufiger wird das Copyright zwischen der mühseligen Nachbildung Strich-für-Strich und der sofortigen Aneignung mit elektronischen Mitteln zerrieben werden,“ schreibt der Kulturwissenschafter Hillel Schwartz. Aber dadurch fällt kein Zacken aus der Krone der Originalität.
Diese Art von Urheberschaft zu verabschieden, bedeutet höchstens, einen graduellen Unterschied einzuführen: mehr oder weniger originell, oder besser: mehr oder weniger originell kopiert. „Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit,“ schrieb Hofmansthal vor hundert Jahren. „Im Grunde sind alle Ideen aus zweiter Hand,“ schreibt Lethem heute, „bewusst oder unbewusst speisen sie sich aus Millionen äusserer Quellen.“ Sammeln, Kopieren, Remixen: „Produktive Referenzkultur“ nennt man das jetzt schon im hochgedrehten Jargon.
Homo copians 2.0
Wenn Kultur zu einem wesentlichen Teil aus Genealogien von Abgeschriebenem, Abgelauschtem, Abgeschautem besteht, wie Lethem in seinem Essay suggeriert, und wenn diese Genealogien in den endlosen Verästelungen des Netzes ihre schier unermessliche intertextuelle Erweiterung finden, dann ist das entscheidende Kriterium der Originalität und Kreativität in der Tat nicht die Schaffung aus dem Nichts, sondern die Schaffung aus den Links.
Aber trotz Wikipedia und bei allem Geschwafel über Schwarmintelligenz: mögen sich im Netz noch so ungeheure Mengen an Bits sammeln, es kommt darauf an, dass Teilströme davon durch individuelle Menschen fliessen. In ihnen – und zwar nicht einfach in ihren Gehirnen – geschieht das Entscheidende: der Funkenschlag zwischen dem bisher Unverbundenen.
Phantasie, Imagination, Kombinationsgabe sind individuelle Vermögen. Sie können durch das Netz verstärkt werden, nicht ersetzt. Ihre Bedeutung dürfte womöglich durch das Netz wiederum gesteigert werden. Das Aufhebens, das von den Möglichkeiten der Partizipation und des sozialen Lernens gemacht wird, ist im Grunde viel Lärm um die alte Banalität: Wir lernen voneinander, indem wir einander nachahmen und Dinge von andern nachmachen, um Eigenes zu schaffen, Bestehendes auf eine neue „Schöpfungshöhe“ zu heben, wie das im Urheberrecht heisst. Der Mensch, das kopierende Tier, tritt auf jeder Stufe der technischen Entwicklung in neuer Version in Erscheinung, zurzeit als Homo copians 2.0.