Die Autoren dieses Beitrages - eine Ethnologin, ein Philosoph, ein Politikwissenschaftler und ein Ökonom – denken, dass wir die Wirtschaft als soziales Geschehen im umfassenden Sinn betrachten sollten. Der Text will zeigen, wie in solcher Perspektive Möglichkeiten erscheinen, die von der üblichen Markttheorie ausgeblendet werden.
Von Georg Kohler, Wolf Linder, Verena Tobler, Werner Vontobel*
Die Probleme sind bekannt: Die globale Wirtschaft verzehrt die natürlichen Grundlagen unseres Wohlstands, konzentriert riesige Einkommen in den Händen weniger, treibt Millionen in die Emigration und nervt viele mit monotoner Arbeit. Möglichkeiten anderer Lebensorganisation werden aber sichtbar, wenn wir „Wirtschaft“ als soziales Geschehen betrachten, das lediglich konkurrenzlogisch nicht zu erfassen ist.
Wir haben uns daran gewöhnt, unter Wirtschaft nur das zu verstehen, was gegen Geld geleistet und verkauft wird. Alles Übrige wird ausgeblendet. Doch dieser übersehene Bereich ist immer noch da: In Stunden gemessen leisten wir weit über die Hälfte unserer produktiven Arbeit ohne Geld als Selbstversorger. Und auch noch heute kann bloss ein geringer Teil unserer Wünsche und Bedürfnisse gegen Geld angemeldet und – vor allem - befriedigt werden.
Im Folgenden geht es um die Koexistenz, Verbindung und das Zusammenwirken dieser zwei Bereiche von Wirtschaft: monetarisierter Markt und Selbstversorgungstätigkeit.
Die Autoren argumentieren für die These, dass man die Gründe für die oben genannten Probleme nicht allein im kapitalistischen Markt als solchem, sondern in erster Linie an den Schnittstellen von monetarisiertem Markt und informeller Selbstversorgung suchen muss. Deshalb plädieren sie für eine methodische Betrachtungsweise, in der „Ökonomie“ nicht nur das ist, was das BIP misst.
Was heisst „Wirtschaft“?
Die Gesamtmenge der Wirtschaft umfasst alle sozial koordinierten (re-)produktiven Tätigkeiten. Eine Teilmenge davon wird gegen Geld geleistet, insbesondere über den Markt als Ware getauscht. Zur zweiten Teilmenge der Selbstversorgung zählen alle geldlosen Tätigkeiten, die wir für uns selbst, für die Familie, Nachbarschaft, Vereine und Freunde erbringen. Drittens gibt es die Schnittmenge der sogenannten „öffentlichen Güter“. Diese werden gegen Geld produziert (Lehrer haben einen Lohn), aber wie in der Selbstversorgung kollektiv finanziert und nach Bedarf konsumiert.
Die Unterschiede und Beziehungen zwischen den drei Teilmengen der Wirtschaft lassen sich unter vier Hinsichten näher bestimmen:
* Alle Teilmengen beanspruchen dasselbe Zeitbudget. Deshalb gehen flexible Arbeitszeiten normalerweise und lange Arbeitswege stets zu Lasten der unbezahlten Arbeit und deren „Betriebsstätten“ – Familie, Nachbarschaften etc. Bislang, das heisst im Lauf der industriegesellschaftlichen Entwicklung, wurde der bezahlten Arbeit vor allem darum der Vorrang vor der (quasi vorindustriellen) Selbstversorgung eingeräumt, weil die erstere in der Tat um Grössendimensionen effizienter ist. Inzwischen hat diese Effizienz jedoch die Erwerbsarbeit selbst zum knappen Gut gemacht; ein Gut, um das wir uns auf vielen Feldern um den Preis flexibler Arbeitszeiten, zermürbender Pendlerwege und tiefer Löhne streiten.
* Der kapitalistische Markt ist nicht nur effizient, weil er produktivitätssteigernde Arbeitsteilungen erlaubt, sondern ebenso, weil er Lohn an Leistung koppelt, ergo mit dem Ausschluss aus der Produktionsgemeinschaft zu drohen vermag. Daraus mag zwar die Motivation zur gehörigen Anstrengung oder gar zum Bessersein als die anderen resultieren, im Effekt also ein Leistungsplus. Freilich ist das nur ein Aspekt derartiger Produktivitätsgewinne. Denn der Mensch ist durch die ihn seit Jahrtausenden prägende Sozialevolution eher auf Kooperation als auf Konkurrenz programmiert. Das aber bedeutet: Zuviel Wettbewerb macht die Einzelnen krank, gefährdet die Gemeinschaftlichkeit und das diese überhaupt erst ermöglichende soziale Vertrauenskapital und zerrüttet so schliesslich fundamentale Bedingungen der monetarisierten Marktwelt selbst.
* Alle Selbstversorgung ist auf räumliche und soziale Nähe angewiesen. Der kapitalisierte Markt hingegen überwindet Kontinente übergreifende Distanzen – und verbraucht dafür enorme Ressourcen. Er ermöglicht und verlangt lange Transportwege mit entsprechendem Verkehrsaufkommen und Energieaufwand. Daraus resultieren zwar Preisvorteile, die für Konsumenten erfreulich sind, aber die globalen Wertschöpfungsketten sind, abgesehen von ihrer ökologischen Problematik, immer schon - und zunehmend - anfällig für Störungen und Erpressung. Zugleich zielen sie auf das Prinzip „The winner takes it all: Wer die strategischen Stellen bzw. den direkten Zugang zu den Kunden beherrscht, schöpft den ganzen Mehrwert ab. Ein Vorgang, der selbst nach den Kriterien der klassischen Markttheorie für Monopolkritik sorgen muss.
* Im Teilsystem der nahräumlichen Selbstversorgung werden Bedürfnisse unmittelbar befriedigt. Im grossräumlich monetarisierten Markt hingegen arbeiten wir für die Nachfrage Fremder. Ergo ist die Bearbeitung aufwendiger Zusatzaufgaben (Werbung, Transport, Arbeitsmarktanalysen, Finanzindustrie etc.) notwendig, Arbeiten, die bei Berücksichtigung aller Anstrengungen die Frage nach dem guten Verhältnis zwischen ursprünglichem Bedürfnis und formierter Nachfrage, nach der Relation zwischen gewinnorientiertem Aufwand und lebensverbesserndem Ertrag, aufwerfen.
Jobs, Jobs, Jobs...?
Die für Industriestaaten typische Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg ergibt (erläutert am Beispiel der BRD) hinsichtlich der verschiedenen Bereiche der Wirtschaft das folgende Bild: Seit 1950 verzehnfacht sich die Produktivität der bezahlten Arbeit, der Arbeitseinsatz pro Kopf aber hat sich fast halbiert. Bis in die 1980er-Jahre sind daher auch die Normalarbeitszeiten ständig nach unten angepasst worden. Doch seither stagnieren sie - oder steigen sogar wieder leicht an. Dem entsprechend dominiert der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und zu Gunsten der Vollbeschäftigung (auf dem Sektor „Erwerbsarbeit“) die wirtschaftspolitische Agenda. - Sein Motto sei „Jobs, Jobs, Jobs“, pflegte Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann zu sagen.
Der aktuelle Güterüberfluss geht also mit verknappter Erwerbsarbeit einher. Der Produktionsfaktor der (bezahlten) Arbeit wird, weil allseits begehrt, zum gesuchten Gut. Exzellenz der je eigenen Wettbewerbsfähigkeit im Kampf der Standorte wird dann zu einer zentralen Strategie beim Versuch, das seltene Gut Erwerbsarbeit für ein Land zu sichern. Was beispielsweise den Ausbau von Bildungsinstitutionen und die gezielte Schulung der Befähigten verlangt.
Die andere Strategie realisiert sich in der weniger glamourösen Verschiebung von bislang unbezahlter Arbeit – vor allem in den Bereichen Ernährung, Pflege, Reinigung, Transport und Unterhaltung - in den monetarisierten Markt. In Deutschland ist daher die unbezahlte Arbeit pro Kopf zwischen 1992 und 2013 um 16% auf insgesamt 89 Milliarden Stunden gefallen. Gleichzeitig ist die Erwerbsquote der Frauen von 56 auf 69% gestiegen, wobei der Anteil der Kinder unter 12 Jahren von 15 auf 11,5% der Bevölkerung sank.
Seit 1991 sind in der Schweiz das Gesundheitswesen, die Erziehung und die öffentliche Verwaltung – also die „Schnittmenge“ – der einzige wirksame Jobmotor. In allen anderen Branchen blieb das Job-Wachstum weit hinter dem der Bevölkerung zurück. So konnte der Exportsektor (Pharma, Uhren, Maschinen, Elektro und Finanzdienstleistungen) bei stark steigendem Exportüberschuss nicht einmal die Zahl seiner Beschäftigten stabilisieren. Und auch in Deutschland ist die bezahlte Beschäftigung trotz Exportüberschüssen und dem massiven Abbau der Selbstversorgung seit 1992 um 14% geschrumpft.
Seit den letzten Jahrzehnten wird zudem das, was von der bezahlten Arbeit übrig geblieben ist, immer ungleicher verteilt. Denn nur, wer viel verdient, bekommt gut zu tun. Je höher der (Stunden-)Lohn, desto grösser das Pensum. In Zahlen: In Deutschland haben nur etwa 75% der Männer und 25% der Frauen noch eine anständig bezahlte Vollzeitstelle. Rund 20% müssen sich mit 32 Stunden und brutto 2000 € über die Runden bringen. 5% der Erwerbspersonen sind arbeitslos und 10% arbeiten pro Woche etwa 10 Stunden zu 10 €.
Jobs...ja, aber welche?
Das Verschwinden, besser: die Verdrängung der unbezahlten Arbeit, des „informellen Sektors“, erzeugt einen Teufelskreis: Wer seine Kinder nur dank mehreren Jobs mit flexiblen Arbeitszeiten durchbringt, ist auf Krippen, Fastfood, Putzdienste und flinke Pizza-Kuriere angewiesen. Man ist froh, in den freien Minuten schnell mal im Fitnesscenter trainieren zu können (sofern das Geld reicht). Turnverein – das war einmal. Und warum sollte man nicht die bei Zalando bestellten Kleider vom Kurier nach Hause bringen lassen? - Kostet ja nichts.
Der Niedriglohnsektor macht’s möglich. Kein Wunder ist die Beschäftigung in den deutschen Kurierdiensten seit 2002 um rund die Hälfte gestiegen. Die Branche feiert sich als „Wachstumsmarkt mit Beschäftigungsmotor“; und die Politik jubelt mit.
Jobs ja, aber welche? Die soziologischen „Daten belegen eine Zunahme von prekären Lagen und vulnerablen Karrieren auch in der gesellschaftlichen Mitte.“ Und schlimmer noch bei den Geringverdienern: „Es ist ein tagtäglicher Druck, der den Beschäftigten in der einfachen Dienstleistung im Nacken sitzt(...). Davor bekommt man Angst, wenn man älter und schwächer wird. Das geht in der Regel ganz schnell. Der Körper macht die Arbeit des Zustellens, Putzens, Pflegens, Bedienens und Verkaufens meistens nicht länger als zehn Jahre mit. Dann gehört man zum alten Eisen und muss sehen, wie man durchkommt.“ (Aus: Heinz Bude, Die Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014).
Folgt man allein der marktökonomischen Denkschablone, scheint es aus diesem langen Pfad in die Sackgasse keinen Ausweg zu geben. Man wird ihn darum auch gar nicht erst suchen. Wozu auch? Das BIP steigt ja trotz allem; und die Zahl der Erwerbstätigen irgendwie ebenso.
Doch liefern BIP und Beschäftigung allein die überzeugenden Massstäbe? Man darf es bezweifeln. „Wirtschaft“, verstanden als Organisation des menschlichen Zusammenlebens durch Tausch, Arbeitsteilung, Kooperation, Wettbewerb und Solidarität ist ein Geschehen, das eine Ökonomik, die lediglich die monetarisierte Rentabilität im Auge hat, nicht adäquat zu erfassen vermag.
Fazit
Drei Einsichten zunächst:
Erstens: Bezahlte Arbeit - vor allem in den Bereichen Nahrung, Pflege, Reinigung - muss vermehrt in unbezahlte zurückverwandelt werden. Hausarbeit muss und darf deshalb aber keineswegs genderspezifisch verteilt werden.
Angesichts der immer noch zunehmenden Pendlerströme gilt ausserdem, dass die Produktionsstätten der Selbstversorgung (Familien, Nachbarschaften, Vereine) nicht sozusagen selbstverständlich den Mobilitätsansprüchen des Marktes geopfert werden dürfen. (Hält man sich die Bewegung der „Gelbwesten“ vor Augen, wird klar, wie wichtig es wäre, Arbeits- und Wohnort möglichst wenig voneinander zu trennen.)
Zweitens: Produktion und Konsum sollten - auch aus Gründen des Umweltschutzes - wieder näher zusammenrücken können. Dass dieses Postulat viel mehr ist als der Ausdruck eines regressiven Utopismus, beweist der Fortschritt der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Die dazu nötige Technologie existiert ja bereits – von der lokalen Energie-Gewinnung, dem urban farming bis zum 3-D-Drucker. Die Software ist zwar global produziert, die eigentliche Produktion und Nutzung bleibt jedoch lokal; und sogar die Rohstoffe der Zukunft werden lokal (UpCycling, Solarchemie).
Drittens: Dies alles vorausgesetzt... würde dadurch das „knappe Gut“ der bezahlten Arbeit nicht noch mehr reduziert? Gewiss, und das ist auch gut so. Denn die Restitution der Selbstversorgungswirtschaft bietet nicht zuletzt die Chance, das verlorene Gleichgewicht zwischen der sogenannten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft neu zu justieren: Wer als Arbeitnehmer nicht gleich mit Kündigung als dem sozialen Aus bedroht werden kann (weil man eben einmal nur in der Nachbarschaft tätig sein will), der ist nicht mehr ohne weiteres erpressbar. Es entsteht ein Kräftegleichgewicht, das am Ende sogar für „Vollbeschäftigung“ im Sinn der herkömmlichen Ökonomie sorgen dürfte; allerdings auf dem Niveau, das dem Stand der heutigen Technologie genügt.
Abschliessend eine sozialphilosophische Erwägung
Wenn „Wirtschaft“ mehr ist als ein Kampf um die Mehrung des BIP und den Sieg im Standortwettbewerb, sondern ein wesentlicher Teil jener Tätigkeiten, durch die wir uns als Individuen und als Sozialwesen um ein gutes Leben bemühen, dann ist es wichtig, die gegebenen Möglichkeiten einer Lebensform zu prüfen, die einerseits alle Chancen der modernsten wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften nutzt, anderseits auch mit einem Modell sozialer Organisation operiert, das die gegenwärtig zu beobachtenden Trends zum „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett) - zum nomadisiernd-monadischen Solitär, der mit seinem Portfolio von möglichst global einsetzbaren Kompetenzen durch die Welt reist - entschieden konterkariert.
Die Idee einer umfassend konzipierten „Tätigkeitsgesellschaft“ (Ralf Dahrendorf) ist darum keine rückwärts gewandte Aussteigervision, sondern nichts anderes als der Versuch einer zeitgerechten Antwort auf die Nöte der „Gesellschaft der Angst“.
* Georg Kohler, Prof.em für Philosophie an der Universität Zürich
Wolf Linder, Prof.em für Politologie an der Universität Bern
Verena Tobler, Ethnologin und Soziologin
Werner Vontobel, Ökonom und Wirtschaftsjournalist