Manch ungeduldiger Bürger könnte von den Schiffersleuten lernen.
Wenn man als Nichtberufskapitän mit seinem „Kleinfahrzeug“ – so der Jargon im Funkverkehr – im Unterwasser einer der vielen Schleusen am Main nahe daran ist, ob der oft endlosen Warterei die Nerven zu verlieren, neigt man gerne zur Annahme, als vortrittsberechtigter Berufsschiffer wäre alles viel einfacher, die Schleusenwärter seien gegenüber den Hobby-Schiffern einfach negativ eingestellt und würden diese gerne in der Strömung des Flusses warten lassen. Vor einigen Tagen haben wir zwischen Aschaffenburg und Würzburg miterlebt, dass auch die Berufsschiffer in reichem Masse über eine Eigenschaft verfügen müssen, welche sich in unserem durchrationalisierten Alltag von einer Tugend zum unnötigen Ballast gewandelt zu haben scheint.
Es geht um ein schon fast altmodisches Wort: Geduld. Ich gestehe, dass ich eigentlich ein ungeduldiger Mensch bin. Vielleicht fasziniert mich das Befahren von Flüssen gerade deswegen so besonders: Die Herausforderung durch den Gegensatz.
Der liebe Gott hat nicht an die Schifffahrt gedacht
Wer per Schiff vom Rhein in die Donau fahren will, muss zuerst einmal die 384 schiffbaren Flusskilometer und die 34 Schleusen des Main und dann den 171 km langen Main-Donau Kanal hinter sich bringen. Der liebe Gott hat bei der Erschaffung des Mains kaum an die spätere Schifffahrt gedacht. Ähnlich wie der Doubs, den die Römer dubius (Zweifel bzw. zweifelnd) genannt hatten, weiss der Main lange nicht, in welche Richtung er eigentlich zu fliessen gedenkt. Seine Quelle in der fränkischen Schweiz ist von seiner Mündung in den Rhein bei Mainz in direkter Linie nur gerade 250 km entfernt, aber der Fluss beansprucht dazu eine Gesamtlänge von 520 km. Zuerst strebt er gegen Westen, doch in Schweinfurt überkommt ihn die Sehnsucht nach dem Süden, die sich 60 km später, in Ochsenfurt, in ihr Gegenteil verkehrt und ihn an Würzburg vorbei weit nach Norden bis nach Gmünden fliessen lässt, wo bis Miltenberg wieder der Drang nach Süden die Oberhand erhält. Schliesslich setzt sich der Trend nach Norden über Aschaffenburg und Frankfurt zum Rhein endgültig durch.
Aber ich meine nicht die Geduld gegenüber der geografischen Verschwendungssucht des launischen Flusses – sie ist dem Kapitän ja bekannt und damit einkalkulierbar –, ich meine die nicht voraussagbare Warterei vor den Schleusen, welche ich eingangs als vermutete Schikane gegenüber den „Kleinfahrzeugen“ erwähnt hatte.
Vortritt für „Tiamo“
Stellen Sie sich ein holländisches Frachtschiff vor, gute 130 Meter lang, auf dem Weg mainaufwärts. Es heisst „Tiamo“. (Die Holländer lieben fremdsprachige Namen, ganz besonders lateinische wie zum Beispiel „Deo iuvante“). Nomen est omen, denn wir lieben die Tiamo auch, ist sie doch die grosse Hoffnung der Solveig, die seit bald einer Stunde an einer Spundwand unterhalb der Schleuse liegt. Hinter einem Frachtschiff gibt es fast immer zusätzlichen Platz in der Schleuse für eine 12 Meter lange Yacht, also rechnen wir damit, dass sich das Schleusentor, wenn es denn endlich so weit ist, nicht nur für die Tiamo, sondern auch für die Solveig öffnen wird.
Beim Einfahren müssen wir allerdings der Tiamo den Vortritt lassen, denn in Schleusen gibt es eine strikte Regel, wonach Kleinfahrzeuge immer als letzte in eine Schleuse zu fahren haben. Könnte ein drei tausend Tonnen schwerer Frachter einmal nicht rechtzeitig bremsen, würde er eine kleine Yacht, und sei sie auch aus massivem Stahl gebaut, am Schleusentor glatt zerquetschen. Also suchen wir nach Rücksprache mit dem Schleusenwärter in der Schleuse für die Solveig hinter dem Frachtschiff ein kleines Stück Mauer zum Festmachen.
Nicht abgehängt werden
Eine gute Viertelstunde später schiebt sich, fünf Meter höher, die Tiamo behutsam aus der Schleuse in das obere Schleusenbecken hinaus. Das Ausfahren von Schiffen dieses Kalibers (Breite 11,4 Meter) aus der 12 Meter breiten und 300 Meter langen Schleusenkammern dauert jedes mal fünf bis zehn Minuten und beim Einfahren noch länger. Sind es zwei oder drei Schiffe, welche in die gleiche Kammer „gepfercht“ werden, dauern allein die Ein- und Ausfahrten jeweils gute 20 Minuten.
Aber das kümmert uns jetzt nicht, denn wir haben mit der Tiamo endlich unsere Türöffnerin gefunden. Unser Bestreben muss nun darin liegen, von ihr bis zur nächsten, 12 km entfernten Schleuse nicht abgehängt zu werden. Das ist gar nicht immer so einfach, denn ein langes Frachtschiff, hat es einmal die Schleuse verlassen und Geschwindigkeit aufgenommen, kann weit schneller fahren als unsere kurze Yacht. Doch für einmal liegen wir gut im Rennen, auch deswegen, weil der Fluss einige enge Stellen aufweist, wo die Tiamo Geschwindigkeit zurücknehmen muss, so wie auch bei Kreuzungen mit andern Frachtschiffen. Doch dann, 3 Kilometer unterhalb der nächsten Schleuse, beginnt die Tiamo plötzlich zu trödeln. Weil ich den Funkverkehr zwischen den Schiffen und der Schleuse mithöre, verstehe ich nur allzu gut, was los ist. Zwei Schiffe würden eben im Oberwasser die Schleusenkammer verlassen, meldet der Schleusenwärter, dann würden ein Schubverband und ein Einzelfrachter von oben her einfahren, die Tiamo solle sich also Zeit lassen...
Kaum je ein böses Wort
Ich übersetze das Zeitnehmen mit einer guten Stunde oder mehr. Die Tiamo muss offensichtlich zu einem ähnlichen Schluss gekommen sein, denn sie bleibt praktisch im Fluss stehen. Da es unterhalb dieser Schleuse keine Anlegemöglichkeit gibt, bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als ihre Wartezeit in der Strömung des Mains zu verbringen. Das erfordert höchste Konzentration, denn man kann in einem Schiff nicht einfach die Handbremse ziehen und einen Kaffee trinken gehen. (Die Solveig könnte in einer solchen Situation den Anker werfen, was wir auch immer wieder tun, aber nicht hinter einem frei schwimmenden Frachter!). Eine ähnliche Situation präsentiert sich gute zwei Stunden später an der nächsten Schleuse, aber von der Kapitänin der Tiamo (aus dem Funkverkehr habe ich unterdessen gelernt, dass das Schiff von einer Frau gesteuert wird, was dem Schiffsnamen eine besondere Note gibt) höre ich kein böses oder ungeduldiges Wort, auch wenn ihr Schiff nach sechs Stunden harter Arbeit nur gerade drei Schleusen und dreissig Kilometer vorwärts gekommen ist.
Es ist erstaunlich, dass man von den Schiffersleuten trotz der ständigen Geduldsproben kaum je ein böses Wort untereinander oder gegenüber dem Schleusenpersonal hört. Dabei kann die Warterei durchaus unangenehme Konsequenzen haben. Während des Wartens hörte ich über den UKW-Kanal 10, der für den Funkverkehr zwischen den Schiffen reserviert ist, wie zwei im Oberwasser wartende Schiffer ihre Erfahrungen austauschten. Der eine erzählte, wie ihn kürzlich das Schicksal hinter einen tief im Wasser liegenden, langsamen Frachter positioniert habe, den er nie habe überholen können. Das sei halt so, meinte er lakonisch, seine Reise zum Rhein würde nun einen Tag länger dauern. Und ein Tag bedeutet 24 Stunden, denn die meisten Schiffe fahren auch während der Nacht.
Von so viel Geduld könnte heute mancher ungeduldige Bürger nur lernen. Auch für den Kapitän der Solveig war und ist die Passage durch eine Schleuse immer wieder ein heilsamer Prozess.