Noch sieht die iranische Führung nicht die Islamische Republik selbst im Kriegszustand mit Israel. Im Krieg befänden sich die iranischen Revolutionsgarden, die allein für die jüngsten Raketenangriffe auf Israel verantwortlich seien. Die Angriffe seien zwar in Absprache mit der iranischen Militärführung und der iranischen Regierung erfolgt, stünden aber ganz unter dem Kommando der Garden. Das Militär stehe aber bereit, um im Falle eines israelischen Vergeltungsschlages zurückzuschlagen.
Die Unterscheidung zwischen Staat und Revolutionswächtern ist grundlegend für das Selbstverständnis der Islamischen Republik. Die Revolutionswächter gelten als Exekutive der religiösen Ideologie der Islamischen Revolution, die nicht an den Landesgrenzen endet. Ihre militärischen Verbände im benachbarten Ausland, die al-Quds-Brigaden, sichern diesen Anspruch und organisieren ihn in der 2012 gegründeten «Achse des Islamischen Widerstands», der sich nach und nach auch lokale Akteure angeschlossen haben und zu parastaatlichen Institutionen wurden. Zugleich bilden die Revolutionsgarden eine innergesellschaftliche Herrschaftsordnung, die sicherstellen soll, dass die religiös-nationalistische Ideologie die tragende Säule der Gesellschaft bleibt.
Das iranische Militär hingegen ist Teil der nationalstaatlichen Ordnung, die durch die politischen Gewalten in Gestalt der Islamischen Republik repräsentiert wird. Das Militär ist ganz dem iranischen Staat verpflichtet. Es garantiert dessen imperialen Anspruch und käme in dem Moment zum Einsatz, in dem der Krieg den iranischen Staat selbst erreicht. Wann dieser Zeitpunkt gekommen ist, entscheidet der Revolutionsführer Ali Khamenei. Er bildet die Klammer zwischen dem Staat und den Revolutionsgarden, die ihrerseits als Parastaat im Iran organisiert sind. Er hat den Oberbefehl sowohl über die Revolutionsgarden als auch über die iranische Armee. Diese Dualität von islamischer Revolution und islamischer Republik bildet den Resonanzraum, in dem die iranische Führung den israelisch-iranischen Gegensatz zum Klingen bringt.
Kontrollierte Eskalation?
Der Iran versucht eine kontrollierte Eskalation. Im April 2024 hatten die iranischen Revolutionsgarden als Reaktion auf den israelischen Angriff auf das iranische Konsulat in Damaskus vor allem langsam fliegende Drohnen, Boden-Boden-Raketen und einige Marschflugkörper eingesetzt. Nur etwa 2% erreichten damals ihr Ziel. Es handelte sich eher um eine Drohgebärde. Diesmal wollten die Revolutionsgarden zeigen, dass sie es ernst meinen. Sie setzten Überschallraketen ein, staffelten die 180 Raketen so, dass sie den Eisernen Dom an einigen Stellen überwinden konnten und zielten auf israelische Militäranlagen. Klar ist: Die Garden wollten diesmal zeigen, dass sie ihre Drohung wahr machen können. Gleichzeitig vermittelten sie die Botschaft, dass es sich um eine defensive Aktion handelte und sie sich noch zurückhielten. Es sollte ein Vorgeschmack auf den Ernstfall sein, der eintreten würde, wenn Israel «überreagieren» würde.
Eine Frage des Timings
Legitimität spielt in der iranischen Politik eine enorm wichtige Rolle. Sie dürfte auch diesmal eine Rolle gespielt haben, um ein «Abspringen» der iranischen Proxies zu verhindern. Die iranische Führung will demonstrieren: Abwarten bedeutet nicht Verrat, sondern die Bestrafung des Gegners durch die ständige Drohung mit Vergeltung, die zu einem geeigneten Zeitpunkt in die Tat umgesetzt wird. Diesen geeigneten Zeitpunkt aber wollte die iranische Führung selbst bestimmen. Die Ermordung des Generalsekretärs der Hisbollah, Hassan Nasrallah, durchkreuzte diese Pläne. Der Iran war gezwungen zu reagieren, obwohl die militärischen Voraussetzungen für einen effektiven Gegenschlag noch nicht gegeben waren. Darüber hinaus verstehen die Revolutionsgarden mögliche Angriffe auf Israel immer auch im Kontext ihrer weitergehenden religiös-nationalen Ziele.
Ideologische Aufrüstung
Die Kontrolle der Eskalation wird von Tag zu Tag schwieriger. Mittlerweile gibt es im Nahen Osten sechs bis sieben kriegerische Brandherde, die alle mit dem iranisch-israelischen Gegensatz verbunden sind und in denen parastaatliche Gruppen militärisch agieren. Zum einen folgen diese regionalen Brandherde immer den Interessen der beteiligten Verbände vor Ort. So hat die Hisbollah zumindest teilweise ein primäres Interesse an der Hegemonie im Libanon. Andererseits trägt die Gegnerschaft dazu bei, dass diese Brandherde zusammenwachsen. Eine einheitliche militärische oder gar politische Strategie ist aber trotz aller Bemühungen der Revolutionswächter (und hier vor allem der al-Quds-Brigaden) nicht erkennbar. Insofern droht die Eskalation unkontrollierbar zu werden. Das gilt in anderer Weise auch für Israel: Hier eskaliert die Rechtfertigungsstrategie. Wie der israelische Präsident Herzog sagte, geht es nicht mehr nur um die Abwehr einer Bedrohung, sondern um die «Befreiung» des Libanon von der Hisbollah, ja um die Befreiung der Region aus der iranischen Umklammerung. Und schliesslich werden in Israel die Stimmen immer lauter, den Iran von der Herrschaft der Islamischen Republik zu befreien.
Mögliche Ziele
Die militärische Antwort Israels wird diesmal sicherlich so ausfallen, dass das iranische Bedrohungspotenzial geschwächt wird. Dabei dürften drei Ziele im Vordergrund stehen: die unterirdischen Abschussanlagen für Mittelstreckenraketen im Westen Irans, die grösseren Nuklearanlagen vor allem in Natanz und die Hafenanlagen für die Verschiffung der Ölprodukte. Da das iranische Regime zeigen wollte, dass es seine Drohungen wahr machen kann, wird das israelische Militär nach dem Motto reagieren: Wir haben verstanden, und deshalb werden wir die Bedrohung ausschalten, wenn es unbedingt sein muss.
Besonders problematisch wäre ein Angriff auf die Atomanlagen. Diese sind ja auch ein Pfand in den Händen Irans, um auf der internationalen Bühne seine Interessen umsetzen zu können. Noch will die Führung, besonders unter ihrem neuen Präsidenten Mas’ud Peseschkian, die Atompolitik auch in den internationalen Verhandlungen wieder aufnehmen. Anzunehmen ist, dass die Atompolitik Iran weiterhin als Schutzschirm dienen soll, gewissermassen als vorgezogene Abschreckung. Ein Angriff auf die Anlagen wäre für Iran der Beginn des «worst case», den es bislang zu verhindern sucht.
Riskante Verstrickungen
Das Risiko für Israel darf nicht unterschätzt werden. Israel wird die Hisbollah nicht so zerschlagen können wie die Hamas. Einerseits droht es in einen langwierigen militärischen Konflikt vor Ort, d. h. in Gaza, im Libanon und im Westjordanland, hineingezogen zu werden, andererseits müsste es eine permanente Gefahrenabwehr gegenüber dem Iran betreiben. Dies könnte auf Dauer eine Überdehnung bedeuten und ein dauerhaftes militärisches Engagement der USA nach sich ziehen. Das Risiko liesse sich nur minimieren, wenn Israel neben der militärischen auch eine politische Option entwickeln und zur Grundlage einer kooperativen Nachbarschaftspolitik machen würde. Dazu braucht es aber die Mitwirkung der arabischen Anrainerstaaten, was wiederum militärisch abgesicherte Zurückhaltung und eine andere Lösung für Gaza und – notabene – auch für die israelischen Geiseln voraussetzt.