Eingeweihten standen auch in Nyon Kontaktmöglichkeiten, Begegnungsorte, Gefässe für informellen Austausch zur Verfügung – denn Festivals sind Marktplätze – und es gab die „Media Library“, wo die meisten Festivalfilme noch auf einem Bildschirm angesehen werden konnten. Dem Publikum stand es frei, sich in Nyon zum Beispiel auf die Filme zu konzentrieren, die um den Grossen Preis konkurrierten, und sich mit dem Ratespiel zu unterhalten: wer wird gewinnen?
Wettbewerbsgewinner "Matthias' Regeln"
Diesmal war es der Film „De Regels van Matthijs“ (Matthias’ Regeln) von Marc Schmidt aus den Niederlanden (2012). Matthijs Van de Meer, einsam und zurückgezogen lebend, aber seit Kindertagen mit dem Filmer befreundet, gewährt diesem den Zutritt zu seiner mit unzähligen merkwürdigen Dingen angefüllten Wohnung, deren sanitäre Anlagen er selber umbaut – zum Missfallen der Hausverwaltung, die ihn aus seinem Heim entfernen möchte.
Mit äusserster Wut reagiert Matthis auf die Androhung einer Beschneidung seiner Autonomie, die zuständige Sozialarbeiterin weiss sich kaum zu helfen. „Du spielst mit dem Feuer“, sagt ihm der Freund hinter der Kamera, Matthias bestätigt das. Der kluge und sensible Mann gilt als Autist und schildert, wie er absolut alles durch Denken erfassen müsse und wie anstrengend und schmerzhaft dies sei.
Dem Filmer vertraut er, der verbirgt ihm nichts und strengt ihn deshalb auch nicht an – De Regels van Matthjis ist ein sehr berührender, schliesslich aber sehr trauriger Film. (Die Auswahl der dieses Jahr von den Juries gekrönten und bepreisten Filme ist auf http://www.visionsdureel.ch/festival/palmares/2012.html publiziert.)
Neuere Filme der "Sarajevoer Schule" und "Ateliers"
Man konnte in Nyon auch von anderen Ordnungsprinzipien Gebrauch machen: indem man sich etwa auf den „Focus Bosnie-Herzégovine“ konzentrierte, im Rahmen dessen acht neuere und neuste Werke der „Sarajevoer Schule des Dokumentarfils“ zu sehen waren. Oder indem man vor allem die „premiers pas“ (erste Kurzfilme von Autodidakten oder FilmschulabgängerInnen) anschaute.
Oder, wie zahlreiche Kunst- und Filmstudenten, auf die Werke und die „Ateliers“ von drei speziell geehrten Filmern (Frauen waren diesmal nicht dabei) : des in Bagdad geborenen Schweizer Filmemachers Samir (Samir Jamal Aldin), des Afro-Amerikaners Kevin Jerome Everson, und/oder des Franzosen Arnaud des Pallières. In diesen „Ateliers“ konnte man die Filmer über ihre Arbeiten reden und auf Fragen aus dem Publikum antworten hören. Von diesen Ausgewählten sind zudem verschiedene Werke ins allgemeine Programm aufgenommen worden.
Everson interessiert sich nach eigener Aussage für Gesten, namentlich auch handwerkliche Gesten, und wie diese Zeit und Gesellschaft strukturieren. Arnaud des Pallières, in Philosophie und Filmkunst geschult, sucht mit Hilfe eines systematischen Auseinandernehmens von Bild und Ton Schichten zu berühren, die jenseits der Gestaltbarkeit liegen. Kinder (infans = der Sprache nicht mächtig) spielen daher in seinen Filmen eine besondere Rolle. Sein Gertrude Stein zitierendes Motto, welches der Broschüre zum diesjährigen Festival vorangestellt war, lautet: „If we can do it then why do it?“
„Disneyland, Mon vieux pays natal“
In „Is Dead (Portrait Incomplet de Gertrude Stein)", 1999, hat Des Pallières alte Filmaufnahmen und Texte von Gertrude Stein mitverarbeitet, diesem Essay entstammt auch die kurze filmische Festival-Präambel zu den diesjährigen „Visions“ und ihr diesjähriges Kennbild. Eine seiner frühen Arbeiten zeichnet einen Vortrag von Gilles Deleuze auf, der die Frage stellte: „Qu’est-ce que l’acte de création?“ (1987), gehalten auf die Initiative des Studenten Pallières hin an der Fémis (Fondation européenne pour les métiers de l'image et du son“, heute „ École nationale supérieure des métiers de l'image et du son“) zu Paris.
Dass der intelligente und ehrgeizige Des Pallières dem Philosophen Deleuze weiter verpflichtet geblieben ist, zeigt sich an all seinen Arbeiten, wiewohl sie inhaltlich und technisch sehr verschieden auftreten. Aus dem Jahr 2001 stammt „Disneyland, Mon vieux pays natal“. Mit 45000 anderen Besuchern ist der Filmemacher eines Tages dorthin gereist. Die Bilder von seiner Zugfahrt hat er mit der Erzählung vom Rattenfänger von Hameln unterlegt. Eindrücklich ist sein Porträt der stummen, durch gehorsame, willige Angestellte verkörperten Comicfiguren in unbequemen Kostümen, die im Winter kalt und im Sommer heiss sind und deren Designer vergessen haben, daß die ihnen innewohnenden Menschen zuweilen aufs Klo müssen.
„Poussières d’Amérique“ (2011) tritt als Stummfilm auf: historische Dokumente aus den USA wechseln mit eingeschalteten Texttafeln ab. Der Spielfilm „Parc“ (inspiriert von John Cheevers „Bullet Park“ [1969]) erinnert in der Stimmung an Marguerite Duras’ „India Song (1975), gibt aber in seiner zweiten Hälfte die atmosphärische zugunsten inhaltlicher Spannung auf. Wie manche von Pallières Filmen zieht er sich in seiner Bemühung um das Unsagbare etwas in die Länge – ähnlich wie auch Gilles Deleuzes „discours“ an der Filmschule.
Doc Alliance-Filme und andere Fundstücke im Netz
Teile der Interviews mit Filmschaffenden, die im Rahmen der Visions du Réel geführt worden sind, sind ins Netz gestellt, was Gelegenheit zum Erinnern, Nachholen, Ergänzen gibt. Man findet sie unter http://www.visionsdureel.ch/en-videos.html. Eine Auswahl von Dokumentarfilmen in voller Länge ist im Netz ebenfalls zu finden. Es sind bisher über 600, und jeden Monat werden es etwa zwanzig mehr. Manche stehen gratis zur Verfügung, andere können für 1-2 Euro im „stream“ angeschaut oder für bis zu 5 Euro auf DVD geladen werden. Wer sich registriert, kann für drei Euro zehn Filme pro zwei Monate ansehen.
Dies ist der „Doc Alliance“ zu verdanken (http://dafilms.com/). In ihr haben sich sechs Europäischer Filmfestivals zusammengeschlossen: Kopenhagen, Leipzig, das tschechische Jihlava, Warschau/Breslau, Nyon und neuerdings Marseille. Die "Doc Alliance" ist während der "Visions du Réel" 2008 aus der Taufe gehoben worden. FilmrezensentInnen aller sechs Mitglieder haben nun drei Filme als Anwärter auf den „Doc Alliance-Preis“ nominiert. Diese bemerkenswerte „Sélection Doc Alliance 2012“, die im Lauf dieses Jahrs an allen sechs Festivals präsentiert werden soll, ist auch in Nyon zu sehen gewesen.
Den eigenen Film zusammensetzen
Man kann an einem Festival – es ist ja ein Fest – auch ohne bestimmte Interessen und Zwecke, alle Kategorien missachtend, in erster Linie seinen persönlichen Interessen nachgehen. Dann wird man sich aus der Fülle des Gesehenen – aus der „found footage“ sozusagen und Begegnungen mit filmenden und anderen ZeitgenossInnen – seinen eigenen Film zusammensetzen. Eine kreative Rezeption kann vor Erstickung unter der Medienlawine schützen, ist vergnüglich und schafft Leben. Wer sich eines solchen ziellosen Zugangs erfreuen kann, wird im Laufe eines Festivals auf nicht programmierte Assoziationen verschiedener Werke und auf eigene Film-Ideen kommen. Er oder sie wird im eigenen Film auch die eigenen Interessen und Sichtweisen reflektiert sehen, welche es erlauben, die einengenden Urteilskategorien „gut“ oder „schlecht“ nach allen Seiten hin zu erweitern.
Manche Filme erscheinen ihr oder ihm dann zwar gut, aber doch nicht weiter interessant, andere äusserst anregend und weiterführend, ohne daß ihnen herausragende cinematographische Qualitäten zugesprochen werden müßten. Natürlich ist es immer schön, wenn man Filme, die einen interessieren, auch als gut bezeichnen kann.
Der Übergang zur Kontrollgesellschaft
Der neue Direktor des Festivals, Luciano Barisone, ist kein Freund des scharfen Bisses. Als Hauptthema der diesjährigen „Visions du réel“ bezeichnet er den „Übergang“ – politisch, sozial, ökonomisch. „Le cinéma ne peut qu’en témoigner“ schreibt er. Als Kriterium für die diesjährige Auswahl stellt er „le respect“ in den Vordergrund, den Respekt von und vor Filmenden, Gefilmten und Publikum.
Drei Filme zum Thema Kontrolle geben jedoch Anlass zu kritischem Nachdenken über den aktuell stattfindenden Übergang zu einer Kontrollgesellschaft. Zwei davon sind von herausragender Qualität. Schon letztes Jahr ist in Nyon mit Nikolaus Geyrhalters „Abendland“ (2011) ein unvergesslicher Film zu sehen gewesen. „Abendland“ zeigte keineswegs den Horror der totalen Kontrolle, er liess das Blut in den Adern gefrieren nur durch seine Berichte über alles, was flüssig, normiert und kühl funktionierend den abendländischen Alltag garantiert.
Carmen Losmanns „Work hard – play hard“ (2011) zeigt in geradezu poetischer Weise, wie Angestellte selektiert, zu mehr Leistung, mehr Engagement, „am Ende … mehr Umsatz“ motiviert werden, in welcher Sprache diese Techniken angewandt werden und in welchen Bildern sie ihren Ausdruck finden. Als Rahmenerzählung dienen der Filmerin die Assessments verschiedener Anwärter und einer Anwärterin auf eine höhere Stelle in grossen Betrieben.
Sie zeigt, wie im Rahmen eines Aufbruchs in eine „moderne und dynamische Zukunft“ die Firma Unilever ihr neues, 2009 bezogenes Gebäude in der Hamburger HafenCity hat konzipieren lassen. Es sollten Räume geschaffen werden, die durch eine „vitalisierende Anmutung … Spass am Arbeiten vermitteln.“ An „Meeting points“ stehen also Möbel fast wie zu Hause, Tischchen an Coffeepoints, wo man gemütlich zusammensitzt, den Fortgang seiner Arbeiten mit anderen zu besprechen, Teeküche und Postfächer liegen beieinander – „dort wird Leben generiert“.
Nichts soll die Angestellten an einen Zwang zur Arbeit erinnern, Plaudereien über Fussball, Wahlergebnisse und tolle Wochenenden sind wichtig, denn eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat ergeben, dass 80 Prozent aller Innovationen aus informeller und ungeplanter Kommunikation entstehen. Je weniger Arbeitsplätze mit zunehmender Automatisierungen nötig sind, desto wohlbedachter müssen die Mitarbeiter ausgewählt werden. Ein „Talent Management“ durch darauf spezialisierte Firmen erlaubt es, mithilfe spezieller Grids per Rechner die „high potentials“ von den weniger guten Performers zu unterscheiden.
Der Mitarbeiter soll jedoch nie den Eindruck haben, dass er nur über Zahlen erfasst werde. Dafür sei das Gespräch wichtig, und immer wieder: „Vertrauen“. Fragen des Datenschutzes stellten sich wenige, erklärt ein Herr, weil viele grosse Kunden auf diese Weise verführen, in dieser empfindlichen Frage helfe Transparenz jedoch immer viel. Dank der Fortschritte der Informatik sind viele Arbeitsplätze nicht mehr ortsgebunden. Das klassische Büro ist neueren Konzepten gewichen, die Stechuhr ist von gestern, heute ist die Arbeit „task-bezogen“. Die Motivation der Mitarbeiter wird durch outdoor-Aktivitäten gefördert.
Losmann beobachtet, wie im Tagungszentrum Ellernhof im Hochseilgarten im Wald dafür gesorgt wird, daß sich Denken und Fühlen, Hirnrinde und limbisches System der mit Führungsaufgaben betrauten Mitarbeiter zu einem potenten Ganzen integriert; in entspanntem, meditativem Zustand werden Möglichkeiten vergegenwärtigt, wie gegebene tasks noch besser erfüllt werden könnten. Das ganze Programm erinnert an manche christlichen Verbesserungsprogramme.
Auf einer großen Schautafel ist eine symbolische Topographie des Firmenlandes zu sehen: das „Tal der schlechten Nachrichten“, der „Sumpf der Verschwendung“, der „Garten der Kundenzufriedenheit“, der „Treibsand des Kontrollzwangs“, der „Hafen der Investition“, der „Berg der Veränderungsangst“ und der „See der Verbesserungsmethoden“, alles verbunden durch Strassen wie Global Mail, Global Express und Global Forward. Ähnlich trifft der wandernde Christ in „The Pilgrim’s Progress“ von John Bunyan (1678) auf den “Slough of Despond“, das „village of Morality“, den „Vanity Fair“, das „Doubting Castle“ und den „Mount Clear“.
"Kultur der ständigen Verbesserung"
In der Deutschen Post wird gegenwärtig ein entsprechender „Change“ des Betriebsklimas unter der Kontrolle von „Change-Experten“ implementiert. Damit ist die Firma „Change Management Kienbaum“ beauftragt, die mit Hilfe des „LEAN-Programms“ eine „Kultur der ständigen Verbesserung“ verspricht. Durch „Aktivitätskennzahlen“, die laufend überprüft werden, lässt sich der eingeleitete Prozeß kontrollieren. Es sei die Meinung, sagt die Expertin, diesen Wandel „wirklich nachhaltig in die DNA jedes einzelnen Mitarbeiters zu verpflanzen.“
Die Angestellten wirken von dem Change keineswegs begeistert. Anlässlich eines „Change Agents Meetings“ diskutieren Verantwortliche über derartige Widerstände seitens der Untergebenen. Manchmal genüge alle Kommunikation nicht, manchmal brauche es eben eine Krise, wird da gesagt, um eine „Change Storyline“ vorwärtszubringen. Die von aussen hinzugezogene Expertin bestätigt: Wenn die notwendigen Überzeugungsprozesse gelaufen seien und die Angesprochenen „sich einfach sträuben und widerständig sind“, dann müsse man halt mal die Diskussion beenden, dann sei man allenfalls gezwungen „über Induktion von Leidensdruck“ zu arbeiten.
Carmen Losmanns „Work hard – play hard“ gehört zur diesjährigen „Sélection Doc Alliance“. „Low definition control – Malfunctions # 0“ von Michael Palm (2011) thematisiert die Videoüberwachung des gesamten öffentlichen Raums. Palm zeigt dort gespeichertes und für irrelevant eingestuftes Bildmaterial, im Off diskutieren verschiedene kluge Sachkundige über Hintergrund, Technik und Konsequenzen der allgegenwärtigen Kontrolle. Sie stellen fest, dass nicht ein nur ein „grosser Bruder“ sondern viele kleine Brüder – etwa per Handy – einander permanent überwachen. Seit der Bedrohung durch Terror und Terrorbekämpfung ist grundsätzlich jeder und jede verdächtig. Aber Leute, deren Verhalten vom Durchschnitt abweicht, werden als besonders verdächtig erfaßt. Das hat zur Folge, dass sich die Kontrollierten, gerade wenn sie unverdächtig erscheinen wollen, vorauseilend möglichst so verhalten, dass sie dem System nicht auffallen.
Papst-Besuch, Machtapparat und Ohnmacht
Eine sehr schöne Arbeit zu Kontrolle und Herrschaft hat Thomas Heise mit „Die Lage“ (2012) vorgelegt. In vielen, mit Bedacht ausgewählten Details beschreibt Heise die Vorkehrungen zum Besuch Papst Benedicts XVI. in der Luther-Stadt Erfurt im Oktober 2011. Der 265. Papst bemüht sich um die katholische Re-Evangelisation Europas und Amerikas. Heises Bilder machen die gigantischen Machtapparate der katholischen Kirche und des deutschen Staates sichtbar – in Details, in Auslassungen, Gesichtern, besonderen Perspektiven. Manche Aufnahmen wirken komisch, so zeigt der in der DDR aufgewachsene Filmer, daß Lachen hilft, mit Ohnmacht zu leben, ohne sich zu verbiegen.
Im Nachgespräch zur Vorführung seiner „Lage“ konnte man von ihm erfahren, daß er für seine Arbeit nur eine ganz beschränkte Bewilligung bekam, eine Einengung, die seinem Interesse für die Atmosphäre der Macht jedoch genau entsprochen hat. Auf die Frage, was er mit dem Titel meine, gab er lächelnd an, das deutsche Wort „Lage“ bedeute mittelhochdeutsch »lauerndes Liegen, Nachstellung«, althochdeutsch »Hinterhalt«. Zudem sei es der Name des Orts, wo anläßlich des Papstbesuchs die Container aufgestellt gewesen seien.
Religion und Jungfräulichkeit
Nyon hat dies Jahr noch andere Filme zum Thema Religion und Glauben gezeigt. Wie Heises „Lage“ machen die „Virgin Tales“ von Mirjam von Arx (2012) auf die Kontrollmacht der Religion aufmerksam. Sie berichten von Mr. und Mrs.Wilson aus Colorado und ihren sieben Kindern. Die Familie lebt einen vorbildlichen evangelikalen Lebensstil. Die Mutter sorgt für Haushalt und Erziehung, ein Anstandsbuch aus dem Jahr 1921 dient dem Erlernen der Etikette. Die fünf Töchter befleissigen sich einer gottgefälligen Lebensweise, keinen Kuß, geschweige denn Sex erlauben sie sich, bevor sie getraut sind. Der Sohn erhält zum Zeichen seiner Mannbarkeit ein mannsgroßes Schwert, später will er zum Militär gehen: „getting close to my enemy“ ist sein Ziel.
Regelmässig segnet der Vater seine Kinder – alle versichern sich ständig mit „I love you“ ihrer familiären Beziehungen. Überdies haben die Wilsons den „Purity-Ball“ erfunden, ein jährliches Ereignis, an dem die der Gemeinde angehörigen Väter mit ihren ganz in Weiss ausstaffierten heranwachsenden Töchtern tanzen. Purity-Bälle gibt es mittlerweilen offenbar in 48 US-amerikanischen Staaten und ausserhalb der USA bereits auch in Finnland. Mr. Wilson reist überdies regelmässig mit Gleichgesinnten nach Washington, engagiert bei den „Watchmen on the Walls“ einer internationalen christlichen Bewegung mit dem Ziel, die christliche Moral und Werte zu beschützen –– etwa vor dem Zerfall, der ihnen seitens der Homosexuellen droht.
In Washington sieht man ihn im Gespräch über die Frage, ob ein amerikanischer Präsident nicht auch in religiöser Hinsicht qualifiziert sein müsste. Wilson vertritt den Standpunkt, die religiöse Qualifikation sei in der moralischen Untersuchung der Kandidaten impliziert – aber wie sind Moral und Religion verbunden? Die Förderung des Heimunterrichts mit entsprechendem Angebot an Lehrmitteln stellen die fundamental christliche Erziehung der Jugend sicher. Die Wilsons wirken durchaus glücklich – sie wissen, was richtig und falsch ist, und sie sind in Gottes Wohlgefallen und den 25% von Evangelikalen, welche die amerikanische Gesellschaft ausmachen, gut eingebettet. Und die Kräfte, die ihren Frieden stören, sind in der Hölle gut versorgt.
Gefilmte Filmer
Zwei jüngere Filmemacher haben die Arbeit älterer, in beiden Fällen russischer Cineasten dokumentiert. Antoine Cattin und Pavel Kostomarov unternahmen es, Alexej Guerman bei der Arbeit an einer Fiktion über ein ausserirdisches unterdrücktes Volk zu beobachten. So autokratisch geht der altgewordene Guerman mit seinen Schauspielern um, daß diese wahrhaftig die resignierte Passivität von Unterdrückten auf den Gesichtern tragen. Und da er noch im alten Lenfilm-Studio zu Petersburg arbeitet, bietet „Dur d’être Dieu“ gleich noch die Gelegenheit, etwas von diesem altehrwürdigen, aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stammenden Etablissement zu sehen.
Carlos Kleins „Where the Condors fly“ zeigt Victor Kossakovsky bei der Arbeit an seinen „¡Vivan las antipodas!“ (2011). Kossakovsky hat sich in den Kopf gesetzt, verschiedene Antipoden in ihrer Umgebung wenigstens cinematographisch zusammenzubringen. Er hat Klein gebeten, ihm geeignete Drehorte in Patagonien zu finden. Klein hat zwar keine Lust aufs Filmemachen mehr, er hat zu viele Filme angeschaut. Aber er kennt und liebt diese Landschaft, über welcher die Kondore kreisen, er ist dort in seiner Jugend mit einem Freund herumgereist, und er verehrt Kossakovsky. So habe er den Auftrag angenommen.
Daraus ist ein wunderbarer Film über das Filmen geworden, endend mit Kossakovskys drei Grundregeln: „Don’t film if you can live without filming“; „Don’t film if you want to say something, just say it or write it“; und „Don’t film if you already know your message before filming. Just become a teacher.“ Aber da ist noch die vierte Kossakovsky’sche Grundregel „Don’t follow my rules. Find your own rules. There is always something which only you and nobody else can film.“ Carlos Klein möchte nach diesem Film mit seinem alten Freund Thomas nochmals nach Patagonien reisen, und vielleicht nimmt er dann ja auch seine Kamera mit. „¡Vivan las antipodas!“ ist der diesjährige Abschlussfilm der „Visions“ gewesen.
Parent-harassment
Filme sind immer auch Geschichten von der Beziehung der Filmenden zu den Gefilmten. Und manche von diesen Beziehungsgeschichten sähe man lieber in der Psychotherapie als im Kino. Eine besondere Art solcher Filme stammt von jungen Cineasten, die in Kindheit und Jugend irgendwie gelitten haben und nun, als Professionelle, die Wurzeln ihrer Leiden suchen. Sie gehen dann mit ihrem Arsenal von technischem und personellem Equipment und womöglich einigen psychoanalytischen Konzepten zu ihren Eltern und filmen ihre Inquisitionen.
Ihr deklariertes Interesse ist es, diese Eltern besser kennenzulernen, im Hintergrund wird ein Denunziations- und Rachebedürfnis spürbar. Man kann ihre Filme als Dokumente von Eltern-Harassment bezeichnen. Nawal zum Beispiel, die Mutter, die ihr Geld als Schullehrerin und in einem Booze-laden verdient, steht ihrem filmenden Sohn tapfer Rede und Antwort. Sie hatte sich in jüngeren Jahren links- und für den Libanon engagiert – der Sohn hat mit Politik wenig am Hut und stellt sowohl ihre Werte als auch ihren Einsatz in Frage. Sie hat ökonomische Verantwortung für ihre Familie übernommen. „Verantwortung?“ fragt er, „wäre nicht Liebe wichtiger?“
Am Ende des Interviews stehen Erschöpfung, Kummer, Zweifel, auch Enttäuschung über das Gespräch mit ihrem Sohn auf dem Gesicht der Mutter, man kann sich vorstellen, daß sie es müde ist, am cinematographischen Pranger zu stehen. Sie wirkt abwesend, er muss seine letzte Frage wiederholen: „Politics aside, what else disappointed you?“ fragt er. Nur dies, sagt sie. „One more disappointment and I wouldn’t still be here.“
"Was hast Du nicht geschafft"?
Ähnlich gibt Pary, die Tochter eines Palästinensers und einer deutschen Mutter an, ihren Vater verstehen zu wollen. Er ist, als sie zwölfjährig war, nochmals nach Palästina gegangen, um für an der Seite seiner Leute zu kämpfen, dann aber, von den Besetzern vertrieben, nach Berlin ins Haus der Mutter zurückgekehrt, wo er nun im Untergeschoß haust, schweigsam und zurückgezogen. In perfektem Deutsch, kühl, distanziert, befragt die schöne Tochter den Vater. Der Scheinwerfer ist eingeschaltet, die Kamera läuft. Sie will etwas wissen von seiner Geschichte.
Er spricht, stockend, von Palästina, seine Geschichte sei die seines Volks. Sie möchte anderes von ihm hören. Er pflegt Umgang mit Palästinensern – „die einzigen Menschen, mit denen ich Kontakt habe.“ „Ja, und die haben Dich richtig schön beschissen“ kommentiert sie mit demütigender Distanz. „Ist doch egal, alles andere hab ich nicht geschafft“, schmeisst er hin. Mit „Was hast Du nicht geschafft?“ provoziert und kränkt sie ihn definitiv. Im Aufstehen und Weggehen poltert er in seinem gebrochenen Deutsch: „Verschwinde, Mensch. Da kannst Du mein Arsch lecken. Aber wirklich. Alle Dinge haben eine Grenze, irgendwo. Auch ich.“
Wie lautet doch eine der Kossakowsky’schen Regeln – „Don’t film if you already know your message before filming“.