Die angebliche Abschaffung der Organe, welche die islamischen «Keuschheits- und Hidschab-Ordnungen» durchsetzen, hat Verwirrung ausgelöst. Die Sittenkontrolleure sind ein polizeiliches Instrument ohne rechtliche Grundlage. So ist nicht einmal klar, wer zu dessen Abschaffung befugt wäre.
Am 3. Dezember 2022 verkündete der iranische Generalstaatsanwalt Mohammad Dschaʿfar Montazeri in Qom die «Aussetzung» des Systems der sittenpolizeilichen «Führungspatrouillen» (gascht-e erschad), mit denen seit 2006 die Einhaltung der damals beschlossenen «Keuschheits- und Hidschab-Ordnung» kontrolliert werden sollte. Allerdings ging es Montazeri nicht um die Auflösung dieser Institution, sondern um die eine Stellungnahme im internen Machtkampf zwischen konkurrierenden Einrichtungen der Islamischen Republik.
In seiner Erklärung stellte Montazeri klar: «Die Sittenpolizei hat nichts mit dem Justizsystem zu tun. Die gleiche Quelle, die sie in der Vergangenheit ins Leben gerufen hat, hat sie auch wieder abgeschaltet. Natürlich wird das Justizsystem seine Überwachung des sozialen Verhaltens in der Gesellschaft fortsetzen.» Die Generalstaatsanwaltschaft sei also nicht für die Sittenpolizei des Regimes zuständig. Montazeri unterliess es wohlweislich zu erklären, wer, wann und wie die Sittenpolizei «ausgeschaltet» habe; hingegen betonte er, um seine Konformität mit dem System zum Ausdruck zu bringen, dass die islamischen Scharia-Gesetze des Landes weiterhin durchzusetzen seien. Es gebe keine «Abschaffung» der Sittenpolizei: «Keine offizielle Behörde in der Islamischen Republik Iran hat die Schliessung der Sittenpolizei bestätigt.» Offenbar hatte er sich für das Regime etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Sachwalter von Khomeinis Doktrin
Gegründet wurden die Führungspatrouillen 2002 im Rahmen eines «Aktionsprogramms» für das Polizeisystem. Mit Erlass der Keuschheit- und Hidschab-Verordnung durch den Obersten Rat der Kulturrevolution im Januar 2006 bekamen die nun als «Sittenwächter» eingesetzten Patrouillen das Recht, die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum und die Einhaltung der Kleiderordnung durch Frauen zu überwachen.
Die Patrouillen rekrutierten sich mehrheitlich aus Angehörigen der Revolutionskomitees, die 1991 in die Dachorganisation der Sicherheitsdienste, mithin der Polizei, integriert worden waren. Sie verstehen sich als Sachwalter und Erben der khomeinistischen Kerngruppen, die schon Mitte der 1970er Jahre als Hezbollahi in Erscheinung getreten waren und die später im Rahmen der islamischen Kulturrevolution militant gegen «westliche Einflüsse» auf Staat, Gesellschaft und Kultur vorgingen. Da sie in ihrer Frühzeit auch die Revolutionsgarden stützten, ergab sich eine enge Verflechtung zwischen den Hezbollahi und dem Sicherheitsapparat.
Das Projekt litt von Anfang an unter der Tatsache, dass es den Charakter einer gesetzlichen Verordnung hatte, aber eben nicht durch die Legislative verabschiedet worden war. Zudem verpflichtete die Verordnung mehr als dreissig Ministerien der Regierung, die Einhaltung der Regeln für Geschlechtertrennung und Hidschab-Bekleidung zu kontrollieren. Damit war auch die Rechtspflege dieser Verordnung willkürlich. Und schliesslich wies die Verordnung einzelnen Personen und Gruppen, die als Sittenwächter auftraten, das Recht zu, Personen zu verhaften, Zwangsmassnahmen anzuwenden und sogar private Räumlichkeiten zu durchsuchen.
In der Folge gab es eine Vielzahl von Skandalen rund um die Durchsetzung der Verordnung. Medien berichteten von Gewalt, sexuellen Übergriffen und Willkür. Immer häufiger wurde kritisiert, dass die Aufgabe des Projekts auf verschiedene Exekutivorgane übertragen wurde, so auch auf Gruppen der Pasdaran, also der Revolutionsgarden, die im Innern Sicherheitsdienste zu leisten hatten.
Das Projekt der «Führungspatrouillen» war vor allem bei der Justiz umstritten. Gemäss Artikel 638 des islamischen Strafgesetzbuches handelt es sich beim «Abnehmen des Hidschabs» um ein Offizialdelikt, das von den Justizbehörden zu ahnden sei. Damit hätte allein die von der Staatsanwaltschaft beauftragte Polizei das Recht und die Pflicht, gegen Frauen, die keinen Hidschab tragen, vorzugehen.
Keine Aufweichung, sondern Konsolidierung der Macht
Das Vorgehen der iranischen Generalstaatsanwaltschaft wird von einigen als Beginn einer Aufweichung der Kontrollordnung der Islamischen Republik angesehen. Tatsächlich war schon vor einigen Wochen die Rede davon, dass das Regime den Patrouillen die Exekutivgewalt entziehen wollte. In ähnlicher Weise hatte das Regime in Saudi-Arabien mit einer spektakulären Massnahme den dortigen Tugendwächtern ihre Vollzugsgewalt beschnitten und sie auf die Funktion von «Berichterstattern» (sprich Spitzeln) reduziert.
Das Vorgehen der iranischen Behörden lässt vermuten, dass das Regime angesichts des Verlusts der Kontrolle über die Gesellschaft eine Zentralisierung und Konsolidierung seiner Machtorgane anstrebt. Dabei soll vor allem die Hoheit des Justizsystems gegen sich selbst ermächtigende «Wehren» durchgesetzt und gesichert werden. Denn auch für die Führung in Teheran und Qom dürften die Proteste deutlich gemacht haben, dass das Regime über keine einheitliche Gegenstrategie verfügt und so ihren vielen, kaum übersehbaren Teileinheiten eine autonome, unkoordinierte Aktionsfreiheit gegenüber den Protestierenden überliess.
Die Niederschlagung der Proteste der unbotmässigen Bevölkerung aber bedingt eine Zentralisierung und wo nötig eine Neustrukturierung der Sicherheitsorgane. Die 1991 unter dem «Strafverfolgungskommando der Islamischen Republik Iran» zusammengefassten Polizeien des Landes unterstehen formal dem Innenministerium, unterliegen aber zugleich der Befehlsgewalt des Generalstabs der Streitkräfte der Islamischen Republik Iran, dessen Chef der Generalmajor der Revolutionsgarden Mohammad Bagheri ist, und damit des Revolutionsführers Khamenei.
Streit um Zuständigkeiten
Eine effektive Bekämpfung der Proteste sei, so hiess es seitens der Justizbehörden, solange nicht möglich, wie die Machtorgane nicht einer einheitlichen Befehlsgewalt unterstellt seien und nicht über eine einheitliche Strategie verfügten. Und dies verlangt von der Justiz die Rückgewinnung der Prärogative der Rechtspflege und dazu die Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Zudem wird moniert, dass aber immer noch der Rat der islamischen Kulturrevolution mit der Überprüfung der Verordnung über Keuschheit und Hidschab beauftragt ist und dass das Parlament lediglich wie schon 2005/6 die Entscheidungen des Rats legalisiert, ohne selbst initiativ sein zu können. Der in Qom ansässige Rat war 1984 von Khomeini per Dekret eingerichtet worden, allerdings ohne über einen Verfassungsrang zu verfügen.
Schon hört man aus anderen Ministerien, dass Montazeri als Generalstaatsanwalt keinerlei Befugnisse habe, über die Zukunft der Führungspatrouillen zu befinden. Auch sein Ansinnen, die Verordnung über Keuschheit und Hidschab zu überarbeiten, fiele nicht in seinen Kompetenzbereich. Auch irritierte er mit der Aussage, dass die Legislative die Überprüfung der gesetzlichen Grundlagen für die Kleiderordnung für Frauen initiieren werde.
Montazeri versucht offenbar eine Gratwanderung: Zum einen will er sich bei Protestierenden Anerkennung verschaffen, indem er zwischen «guten» Demonstrierenden, deren Anliegen zu würdigen seien, und «bösen Feinden», die im Dienst auswärtiger Mächte stünden, unterscheidet. Zum anderen will er die Macht der Justizbehörden sichern, indem konkurrierende Fraktionen ausgeschaltet werden. Und schliesslich will er sich das Wohlwollen der Führung der Islamischen Revolution, also von Khamenei, sichern. Dies aber zeigt nur, wie marode die Innenarchitektur der Islamischen Republik geworden ist. Doch die Neugestaltungen der dualen Ordnung der Institutionen der Islamischen Revolution (Khamenei) und der Regierungsbehörden wird die weitere Erosion der Staatsmacht nicht aufhalten können.