„Liebe Frau Premierministerin! Mein Kind wäre höchstwahrscheinlich tot auf die Welt gekommen. Mein Leben war auch in Gefahr. Ich bitte Sie von ganzem Herzen, bitte denken Sie doch nach!“ Diese Botschaft war vor einigen Tagen auf dem Facebook-Profil von Beata Szydlo zu lesen – neben gut zweitausend andern, die sich gegen eine Verschärfung des sonst schon sehr restriktiven Abtreibungsgesetzes gewandt haben. Frau Szydlo beeilte sich zu erklären, es gäbe in dieser Sache gar kein Regierungsprojekt.
Ultrakatholischer Druck für totales Verbot
Innerhalb weniger Wochen ist die Abtreibungsfrage in Polen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, ausgelöst von ultrakatholischen Pro-Life-Organisationen. Mitte März hatten diese im Sejm einen Registrierungsantrag für ein Komitee „Gesetzesinitiative Stopp der Abtreibung“ eingereicht . Diese will auch die wenigen heute noch bestehenden Möglichkeiten zur legalen Abtreibung abschaffen.
Im realsozialistischen Polen hatte ein sehr liberales Abtreibungsgesetz gegolten, welches kurz nach der Wende 1993 auf Druck der katholischen Kirche gekippt wurde. Nach dem neuen, heute noch geltenden Gesetz waren nur noch Abtreibungen bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei Vergewaltigungen und Inzest sowie bei zu erwartenden Missbildungen und sehr schweren Krankheiten des Kindes gestattet.
Aber diese als „Kompromisslösung“ verkaufte Regelung war der Mehrheit des Klerus und den traditionalistischen Katholiken weiterhin ein Dorn im Auge. Dabei war die Zahl der legal durchgeführten Abtreibungen gering. Erst in letzter Zeit ist sie wieder etwas angestiegen, 2014 waren es gut 1800. Die Schätzungen der illegalen Abtreibungen schwanken hingegen enorm. Sie reichen von einigen Zehntausend bis zu Hunderttausend. Die Abtreibungen werden oft im Ausland ausgeführt
Differenzen im Regierungslager
Die Abtreibungsfrage stand auch immer wieder im Parlament zur Debatte. Neben wenigen Versuchen aus linken Kreisen, die Abtreibung erneut liberaler zu gestalten, waren vor allem die Abtreibungsgegner aktiv. Sie lancierten sogenannte Bürgerprojekte. Mit jeweils über 100'000 gesammelten Unterschriften brachten sie mehrmals Gesetzesvorschläge ins Parlament, die faktisch ein generelles Abtreibungsverbot vorsahen.
Zuletzt wurde im September 2015 vom Sejm ein entsprechender Gesetzesentwurf abgelehnt. Die rechten Parteien, insbesondere die seit November herrschende PiS (Recht und Gerechtigkeit), hatten für eine Weiterbearbeitung des Gesetzesentwurfes gestimmt. Die PiS trat auch sonst programmatisch für eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes ein. Allerdings gab es dabei interne Meinungsverschiedenheiten und die Frage spielte im Wahlkampf vom letzten Herbst nur ein sehr geringe Rolle.
Vielen PiS-Politikern dürfte die aktuelle Gesetzesinitiative ungelegen kommen. Vor allem die Regierung hat sich bisher in weltanschaulichen Fragen eher zurückgehalten (vgl. Journal21.ch vom 26.2.2016). Nach einer Umfrage von Anfang März sind mehr oder weniger grosse Mehrheiten für die geltenden Abtreibungsmöglichkeiten: von 80 Prozent, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, bis zu 53 Prozent, wenn das Kind mit Missbildungen zur Welt kommen sollte. Das sind zwar weniger als vor zwanzig Jahren, aber ein generelles Abtreibungsverbot würde von der Gesellschaft sicher nicht akzeptiert.
Gespaltene Gesellschaft
Das zeigen auch die heftigen Reaktionen auf das aktuelle Bürgerprojekt „Stopp der Abtreibung“. Am letzten Samstag und am vorletzten Sonntag gab es in Warschau Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern. In weiteren Städten gab es kleine Kundgebungen. Die Stellungnahme des Präsidiums des polnische Episkopats, in der eine Revision des geltenden Rechts gefordert wird, wurde von vielen Gläubigen abgelehnt. Die bischöfliche Botschaft wurde am vorletzten Sonntag, am Tag der „Heiligkeit des Lebens“ in den meisten Kirchen vorgelesen.
Bis die Gesetzesinitiative im Sejm landet, wird es noch einige Zeit dauern. Zuerst müssen die 100’000 Unterschriften gesammelt werden. Dann dürfte es spannend werden. Big Boss Jaroslaw Kaczynski und Beata Szydlo haben schon erklärt, dass sie für eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes sind. Allerdings soll es keinen Fraktionszwang geben. Das Parlament wird wohl die Gesetzesinitiative ablehnen. Aber die PiS wird wahrscheinlich die relativ am wenigsten und am häufigsten angewandten Möglichkeiten aus dem Gesetz kippen: Kinder mit Missbildungen und sehr schweren Krankheiten dürften dann wohl nicht mehr abgetrieben werden.
Sicher wird die Abtreibungsfrage die ohnehin stark gespaltene Gesellschaft weiter polarisieren und dürfte der PiS eher schaden als nützen. Die PiS und ihre Regierung sind auch so schon unter Druck. Vor allem die weiterhin bestehende Blockade des Verfassungsgerichts wird nicht nur von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung kritisiert. Sie stösst auch auf scharfe Kritik der EU und des Europarates. Sie nimmt auch in der morgen zu beschliessenden Polen-Resolution des EU-Parlaments einen zentralen Platz ein.
Die Regierung und die PiS haben sich in dieser Frage zwar etwas bewegt. Es soll nun im Sejm ein Allparteien-Kompromiss gefunden werden. Aber die Hauptforderung der Opposition sowie der zuständigen Rechtskommission des Europarates wird weiterhin ignoriert: das Urteil des Verfassungsgerichts gegen das neue Gesetz durch seine Veröffentlichung zu anerkennen und damit einen Neuanfang zu setzen.
PiS zieht ihr nationalkonservatives Projekt durch
In der Wählergunst hält sich die PiS allerdings immer noch recht gut. In einer Umfrage von Anfang April bekam die PiS sogar 38 Prozent, gleichviel wie bei den letzten Wahlen und etwas mehr als Anfang März. In zwei andern Umfragen von Mitte März erhielt die PiS zwar nur 30 Prozent, war damit aber immer noch mit deutlichem Abstand die populärste Partei.
Einen gewissen Einfluss auf die Stimmung dürfte die seit Anfang April laufende Umsetzung des populären Kinderzulagengesetzes ausgeübt haben (vgl. Journal21.ch vom 26.2.2016). Obwohl das Verfahren etwas kompliziert ist – es muss ein Antrag ausgefüllt werden –, scheint die Sache zu funktionieren.
Die seit der Regierungsübernahme eingeschlagene Strategie der PiS ist bis jetzt einigermassen aufgegangen: zuerst die eigene Machtposition in den staatlichen Institutionen massiv auf- und ausbauen (auch mit rechtsstaatlich mehr als bedenklichen Methoden); die damit verbundene breite Kritik ignorieren oder mit aggressiver Gegenkritik beantworten; das eigene Lager als „belagerte Festung“ zusammenhalten; durch die scheibchenweise Umsetzung von populären Wahlversprechen die Partei in der Wählergunst stabilisieren. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch zukünftig keine grösseren Kurskorrekturen vorgenommen werden.