Die Haltung der Türkei gegenüber dem „Islamischen Staat“ (IS) werde sich grundlegend ändern, erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, in New York am Rande der Sitzung des Uno-Sicherheitsrats.
Geprägt gewesen sei die bisherige türkische Haltung durch die Geiselnahme türkischer Bürger im Norden des Irak. Sie waren im türkischen Konsulat in Mosul von Kämpfern des Islamischen Staates gefangen genommen worden. Mosul wurde am 8. Juni dieses Jahres überraschend von IS-Aktivisten eingenommen. Unter den 49 Geiseln befanden sich türkische Diplomaten und ihre Familien.
Die bisherige türkische Haltung gegenüber IS, sagte Erdoğan in New York vor den Medien, habe „für die 101 Tage gegolten, während denen unsere Geiseln gefangen gehalten wurden“.
„Am 102. Tag ist die Lage eine andere“, betonte er. „Und wir handeln dementsprechend.“
Operationen „über die eigene Grenze hinaus“?
Erdoğan erklärte, durch blosse Luftangriffe könne IS nicht vernichtet werden. Er machte klar, was der Türkei vorschwebt: "Wir haben drei Optionen systematisch vorangetrieben: 1) Erklärung einer Flugverbotszone, 2) Erklärung einer Sicherheitszone, 3) Ausbildung und Bewaffnung des syrischen Widerstandes.“
Über alle drei Themen seien internationale Verhandlungen im Gang. Diskutiert würden die Massnahmen innerhalb einer weiten Koalition „von 104 Staaten, die sich gegen IS gebildet hat – vielleicht sind es jetzt bereits mehr.“
Erdoğan betonte, dass die Türkei ihre langen Grenzen (900 Kilometer mit Syrien und über 300 Kilometer mit dem Irak) selbst verteidigen werde. Unter dem Begriff Verteidigung scheint er auch die Möglichkeit von grenzüberschreitender Vorwärtsverteidigung ins Auge zu fassen. Er sagte, das Parlament werde am 2. Oktober beschliessen müssen, ob die türkischen Streitkräfte auch Operationen über die Grenzen hinaus durchführen könnten.
Wer kämpft am Boden?
Laut Erdoğan müsse es Sache der Koalition sein, die Verantwortung für die Sicherheit der geplanten Sicherheitszone zu übernehmen. Er erwähnte nicht ausdrücklich, wer die Flugverbotszone sichern soll, die von der Türkei gefordert wird. Wer für was verantwortlich ist – darüber „wird zurzeit verhandelt“. Die Nato-Mitglieder, also auch die Türkei, würden jetzt „darüber diskutieren, wer die Luftoperationen durchführt und wer am Boden kämpft“. Bisher habe die Frei Syrische Armee (FSA) gegen den Islamischen Staat am Boden gekämpft. „Doch die nächste Phase wird anders werden“.
Es gehe nicht nur um ein Problem der Türkei, sagte Erdoğan. Es gehe um die 1,5 Millionen syrischer Menschen, die in die Türkei geflüchtet sind. Ein Teil der Verhandlungen „dreht sich um ihre Rückkehr. Vielleicht werden neue Städte für sie errichtet werden“.
Asad wird nicht zustimmen
Aus all dem geht hervor, dass die Türkei an ihren Grenzen eine Sicherheitszone in Syrien und im Irak errichten will. Doch für die Sicherheit dieser Zonen will sie nicht allein die Verantwortung übernehmen – ebenso wenig für die Durchsetzung des geplanten Überflugverbots. Dies sei Aufgabe der Koalition. Über all diese Punkte werde jetzt verhandelt.
Was Erdoğan nicht sagte: Die Errichtung von Sicherheitszonen und einer Flugverbotszone würden unvermeidlich die Zustimmung des Asad-Regimes verlangen. Eine solche Einwilligung Asads ist sehr unwahrscheinlich. Es bliebe die Möglichkeit, Asad solche Zonen aufzuzwingen. Das würde bedeuten, dass die syrische Luftwaffe und ihre Infrastruktur durch Luftangriffe von aussen teils zerstört und stark dezimiert würden. Die Türkei denkt offensichtlich nicht daran, solche Luftangriffe allein durchzuführen. Sie wird den ganzen Plan davon abhängig machen, ob sie Rückdeckung von den USA und andern Koalitionspartnern erhält.
Russland und China sagten „nicht nein“
Alles würde heissen, dass künftig nicht nur Krieg gegen den Islamischen Staat geführt würde, sondern auch gegen Asads Luftwaffe. Dass die Russen und die Chinesen einer solchen Entwicklung zustimmen könnten, ist schwer zu glauben, obwohl Erdoğan sagte: "Russland und China stimmten zu, beide sagten nicht nein“. Wozu genau dieses „nicht Nein“ gegeben wurde, ist unklar.
Es liegt im Interesse der Türkei, dass die anderthalb Millionen syrischer Flüchtlinge in ihr Land zurückkehren können. Die Sicherheitszone, die dafür an der türkischen Grenze auf syrischem Gebiet geschaffen werden müsste, werde „wohl gegen 50 Kilometer tief sein“, sagte Erdoğan. Die türkischen Militärs seien dabei, genaue Pläne auszuarbeiten. Klar ist, dass die Türkei will, dass ihr die Koalition dabei hilft und Rückdeckung verschafft. Vor allem die Amerikaner sind angesprochen. Ohne sie könnten weder Sicherheitszonen noch Flugverbot durchgesetzt werden. Es bliebe dann nur der dritte Programmpunkt: Ausbildung und Bewaffnung des syrischen Widerstands.
Keine schnelle Verwirklichung von Erdoğans Plan
Es ist eher unwahrscheinlich, dass Sicherheitszonen auf syrischem Boden bald zustande kommen. In diesem Fall wird die Türkei wohl stets als Mahner auftreten und auf eine spätere Verwirklichung pochen. Sie wird dann die Koalition und die neutralen Staaten energischer dazu auffordern können, zum Unterhalt der Flüchtlinge beizutragen. Ihr Argument wird lauten: Ihr wollt ja keine Sicherheitszone schaffen, also helft uns, die Last zu tragen, die dadurch auf unserem Boden entsteht!
Für den Krieg gegen den Islamischen Staat hat die neue türkische Haltung weitgehende Konsequenzen. Sie bedeutet, dass die Türkei der Koalition die Möglichkeit anbietet, von ihren Grenzen aus aktiv zu werden, und zwar humanitär wie auch militärisch. Dadurch wird der Krieg gegen IS auf einen Krieg gegen Asad ausgeweitet.
Vorerst dürfte die Koalition, einschliesslich der USA, vor einer solchen Ausweitung des Krieges zurückschrecken. Doch der Krieg gegen IS wird wohl lange dauern. Er wird deshalb wahrscheinlich lange Zeit keine Entscheidung bringen. Was sich alles im Verlauf dieser langen Frist noch ereignen wird, ist nicht voraussehbar. Möglicherweise könnte es dazu kommen, dass der türkische Plan zu einem späteren Zeitpunkt Anwendung findet.