In der Geschichte des Kolonialismus spielt Japan eine besonders interessante Rolle. Geradezu von allen Meeresseiten wurden fremde und vorteilssüchtige Handelsleute einerseits, Missionare unterschiedlichster Couleur andererseits an seine Inselküsten gespült. Dies führte zu einer besonderen Sensibilität der japanischen Herrschaftsschichten allem gegenüber, was eigene Tradition, Religion und Kultur betrifft. So kennt man in der japanischen Geschichte Phasen der Kooperation und Integration ebenso wie solche rigoroser Isolation und Ausschluss von allem, was als «fremdmarkiert» daherkam.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit dem wachsenden britisch-europäischen und amerikanischen Imperialismus, geriet auch Japan unter vorher nicht gekannten Kooperationsdruck mit den nach Weltherrschaft strebenden Grossmächten. Diese waren nun eifrig dabei, durch Kolonien auf anderen Kontinenten sich das zu besorgen, was ihnen im Konkurrenzkampf um die national-imperiale Vorherrschaft vorteilhaft schien. Die «Meiji-Zeit» (1868–1912) gilt in Japan als die Periode der «aufgeklärten Herrschaft», in der Japan selbst sich aus einem Feudalstaat zu einer wirtschaftlich und militärisch imperialen Grossmacht entwickelte, die im Wettbewerb der Nationen um die Güter unseres Planeten durchaus eine eigene Rolle spielen wollte.
Madame Butterfly
Es gibt kein Kunstwerk, das diese konfliktreiche Spannung zwischen eigenen Traditionen und Sitten und der kolonialistischen Bedrohung durch fremde Wertsysteme ergreifender ins Licht rückt als Giacomo Puccinis Oper «Madama Butterfly». Grundlage dieser Oper war eine Erzählung mit dem Titel «Madame Butterfly» des Anwalts aus Philadelphia, John Luther Long, die dieser 1898 in einem amerikanischen Magazin veröffentlicht hatte. Er hatte die offenbar auf Tatsachen beruhende Geschichte von seiner eigenen Schwester gehört, die fünf Jahre in Nagasaki an der Seite eines christlichen Missionars gelebt hatte.
Es ist die Geschichte der japanischen Geisha «Chô-San» (auf deutsch: Schmetterling), die sich in den amerikanischen Marineoffizier Pinkerton verliebt, der sie nach japanischem Recht zwar heiratet, doch nach kurzer Zeit wieder verlässt, um in Amerika eine Amerikanerin zu ehelichen. Sie wartet über 3 Jahre lang, voller Hoffnungen und in aufreibender Sehnsucht auf seine Rückkehr. Nach seinen Abschiedsworten wollte er zurück sein, «wenn die Rotkehlchen ihr Nest bauen». Dann kommt Offizier Pinkerton wirklich zurück, doch mit seiner amerikanischen Ehefrau, um das von ihm mit der Geisha gezeugte Kind abzuholen. In ihrer Verzweiflung kennt die betrogene Butterfly keinen anderen Ausweg, als sich mit dem Harakiri-Messer ihres Vaters umzubringen.
Für die Operntextversion sicherte sich Puccini die Mitarbeit seiner erfahrenen Freunde Giuseppe Giacosa und Luigi Illica. Sein Verleger Ricordi konnte 1901 die Rechte für die Vertonung der Geschichte erwerben, die inzwischen als Schauspiel in einer Version von David Belusco am Broadway in New York grosse Erfolge feierte. Puccini brauchte diesmal mehr Zeit für die Vollendung der Oper, auch weil er sich kundig machen wollte über die traditionelle Musik Japans. Dazu kam sein schwerer Autounfall, der ihn 1903 über Monate an den Rollstuhl fesselte und an der Vollendung seiner neuen Oper hinderte.
Zur Uraufführung kam «Madama Butterfly» schliesslich am 17. Februar 1904 an der Mailänder Scala. Der Abend ging in die Operngeschichte ein als einer der heute vollkommen unbegreiflichen Theaterskandale. Ein «fracasso!», was soviel bedeutet wie ein in Lärm und Protest untergehendes Spektakel. Komponist und Verleger zogen das Werk gleich zurück. Es folgten darauf kleine Umarbeitungen. Puccini hielt das Werk für eines seiner gelungensten. Bereits Ende Mai 1904 – gut drei Monate nach dem Unglück in der Scala – kommt das Stück im Teatro Grande von Brescia wieder zur Aufführung und wird dort ein absoluter Triumph! Der Erfolg von Puccinis «Madama Butterfly» rund um die Welt beginnt. Sie ist heute eines der meistgespielten Werke des gesamten Opernrepertoires.
Kolonialismus als private Tragödie
Der erste Akt bietet so etwas wie «Kolonialismus auf dem Präsentierteller»! Die Amerikaner – der Offizier B. F. Pinkerton und der Konsul Sharpless – benehmen sich wie Vertreter einer Herrenrasse einer zurückgebliebenen indogenen Kultur gegenüber. Der Gestus der Herablassung und des zum Lebensstil entwickelten Zynismus ist vorherrschend, begleitet von völliger eigener Ahnungslosigkeit gegenüber Religion und Traditionen der Einheimischen. Verträge gelten in Japan für 999 Jahre. Aber ein Amerikaner kann jederzeit aus einem japanischen Vertrag aussteigen. Die Herren der Welt verkennen vollkommen die Würde und Schönheit des Landes, deren Gäste sie sind.
Bonzo, der Priester, wird als besoffener, fluchender und Argwohn schürender Polterer geschildert, der Heiratsvermittler Goro als schleimiger Profiteur. Suzuku, Cio-Cio-Sans Dienerin, ist eine im alten Aberglauben an Naturgötter verbliebene Frau, die besser heulen als denken kann. Butterflys Verwandte sind nichts als eine primitive, von Habgier und Neugier getriebene Meute. Puccini hat diese Figuren in ganz wundersam pentatonisch-orientalisch klingende Töne gehüllt, sodass man als Hörer den fremdartigen ästhetischen Zauber Japans immer wieder erlebt.
Das Drama beginnt freilich, wo die aus einer alten adeligen, doch verarmten Familie stammende Geisha Butterfly Liebe und Heirat des Amerikaners als ernstgemeinte Sache missversteht, während er darin nichts als einen Zeitvertreib und eine Urlaubsaffäre sieht. Um dem geliebten Mann auf jede nur mögliche Art und Weise nahe zu sein, wechselt sie ihren familiären Ahnenglauben und wird heimlich Christin. Was zur Folge hat, dass sie von Onkel Bonzo und der Verwandtschaft verstossen und verflucht wird. Für sie wird es keine Rückkehr in die japanische Gesellschaft geben. Ihr bleibt als Option nach soviel Verrat und Schande nur der Tod.
Das Liebesduett
In jedem der drei Akte gibt es Passagen und Momente, die uns wegen ihrer tiefen Menschlichkeit treffen und wegen ihrer tragischen Aussichtslosigkeit berühren. Madame Butterfly ist die Geschichte, wie eine Frau aus unbedingter Liebe und vertrauensseliger Hingabe zum Opfer eines kulturellen Missverständnisses und eines rassistisch geprägten Zynismus wird.
Gerade für die beiden Protagonisten dieser Oper hat Puccini am Ende des 1. Aktes ein Liebesduett komponiert, das zu seinen schönsten gehört. Es beginnt im Garten jenes Hauses auf dem Hügel über Nagasaki, das Pinkerton für sein Liebesabenteuer mit Butterfly am Hochzeitstag erworben hat. Die Hochzeitsgäste und das Personal haben sich zurückgezogen, die beiden sind allein. Die Braut ist zwar «verstossen, aber glücklich!», denn sie hat jetzt ihren Geliebten. «Vogliatemi bene», bittet sie ihn, er möge sie doch ein klein wenig lieben, so wie die kleinen Dinge ihr immer schon vertraut gewesen seien und zu ihr gepasst hätten. Stille und Demut stehe ihr zu, Zärtlichkeit und leises Kosen, wie sachte Meereswellen.
Butterfly fragt Pinkerton, ob es wahr sei, dass in ihren Ländern Schmetterlinge mit einer Nadel auf ein Brett aufgespiesst würden. Ja, sagt er, damit sie nicht mehr davon fliegen könnten. Nun gehöre sie ihm. Butterfly antwortet: Ja, jetzt sei sie die Seine fürs Leben! Pinkerton ist überwältigt von ihrer Schönheit. Die meint, noch nie habe sie einen solchen Sternenhimmel über sich erblickt. Der Himmel lache und leuchte aus Freude über ihre gemeinsame Liebe. Der glücklichste Augenblick im Leben der beiden ist da. Die Musik lässt uns hier nichts mehr empfinden als Liebesglück.
In der Geschichte der Gesangskunst gibt es nicht wenige grossartige Darstellerinnen und Darsteller dieses tragischen Paares. Hier sind zwei unter den besten ausgewählt: Als Madama Butterfly hören wir im Liebesduett Angela Gheorghiu, als Pinkerton Jonas Kaufmann. Die Aufnahme entstand bei der Gesamteinspielung der Oper für EMI im Jahr 2008 in Rom. Am Pult steht Antonio Pappano, der das Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia leitet.
Madama Butterfly – Vogliatemi bene – Angela Gheorghiu, Jonas Kaufmann