Der Kurzbesuch des Weltwoche-Chefs Roger Köppel in Moskau und seine schönfärberischen Eindrücke über die russischen Realitäten erinnern an eine ähnlich Moskaufahrt des deutschen Schriftstellers Lion Feuchtwanger.
In seinem Reisebericht «Moskau 1937» hat Feuchtwanger nach einem zweistündigen Gespräch mit Stalin ausgerechnet auf dem Höhepunkt des internen Terrors die damaligen sowjetischen Zustände völlig verklärend als vorbildlich für die Zukunft der Menschheit geschildert. Erst nach seinem Tod enthüllten Archivmaterialen und Tagebuch-Einträge, dass Feuchtwanger von diesem optimistischen und humanen Russlandbild keineswegs so überzeugt war, wie er es beschrieb.
Der helvetische Welterklärer Roger Köppel ist vor gut einer Woche für drei Tage nach Moskau gereist, um von dort in mehreren Video-Auftritten und schriftlichen Texten über seine Erkenntnisse über die aktuellen Stimmungen und Zustände in Putins Russland zu berichten. Schon wenige Stunden nach seiner Ankunft stellte er sich auf dem Roten Platz vor die eigene Kamera und liess sein Publikum wissen, dass manche Realitäten in diesem Land auf ihn ganz anders und viel vorteilhafter wirkten, als sie in den westlichen «Mainstream-Medien» dargestellt würden.
Entspannte Menschen in Moskau
Köppel stellt sich dem Publikum, das er per Video über seine täglichen Gratis-Newsletter «Weltwoche Daily» anspricht, als alternative Informationsquelle zum angeblich gleichgeschalteten westlichen Mainstream dar. Die Westmedien interessierten sich, behauptet er, generell nur für die amerikanische Sicht und diejenige des Kiewer «Kriegstreibers Selenskyj» auf die russischen Zustände. Darum sei er nach Moskau gereist, um sich ein eigenes Bild von der Wirklichkeit zu verschaffen.
Es herrscht angenehme und fröhliche Frühlingsstimmung in Moskau, berichtet der Kurzbesucher. Die Menschen seien gelassen und entspannt. In den Geschäften und in den gut besuchten Cafés fehle es an nichts. Irgendwelche Spuren von westlichen Sanktionen wegen des Ukraine-Krieges kann der rasende Reporter nicht entdecken. Die Menschen, die Köppel auf dem Roten Platz und in der Moskauer Flaniermeile beobachtet oder mit denen er von wohlwollenden Helfern eingefädelte Gespräche führt, scheinen sich über das Kriegsgeschehen in der Ukraine nicht viele Sorgen zu machen. Die überwältigende Mehrheit der Menschen vertraut Präsident Putin und ist überzeugt, dass er das Richtige für das Wohl des Landes tut, so der Eindruck des Video-Plauderers. Hass gegenüber dem Westen kann er nicht entdecken, höchstens Enttäuschung und Unverständnis über die «Gesprächsverweigerung» westlicher Politiker.
«Sind Russen die besseren Europäer»?
Schliesslich stellt Köppel in einem Kommentar seines Wochenblattes die tiefschürfende Frage, ob die Russen angesichts der offenkundigen Friedfertigkeit und Gelassenheit, die er in Moskau erfahren hat, vielleicht die «besseren Europäer» seien als jene, die Waffen in die Ukraine liefern und Sanktionen gegen das grosse potentielle Partnerland im Osten verhängen. Dass diese möglicherweise «besseren Europäer» ein Nachbarland mit einem mörderischen Vernichtungskrieg überziehen, durch den inzwischen mehr als hunderttausend Menschen getötet und Millionen von Menschen in die Flucht getrieben wurden, bleibt in Köppels Video-Geplauder höchstens eine rhetorisch verzuckerte Randbemerkung. Und wenn das Thema gestreift wurde, dann unfehlbar mit dem Subtext, dass das Putin-Regime mit diesem Feldzug nur seine verständlichen Interessen verteidige, die man im Westen fatalerweise ignoriere.
Vielleicht ist dem Weltwoche-Chef, der im Schnellverfahren zum Russland-Kenner mutierte, nicht geläufig, dass seine einseitig verbrämte Moskauer Pilgerreise in mancher Hinsicht frappierende Parallelen zu einem ähnlichen Offenbarungs-Unternehmen des zu seiner Zeit sehr erfolgreichen deutschen Schriftstellers Lion Feuchtwanger wachruft. Feuchtwanger, Spross einer grossbürgerlichen jüdischen Familie, war nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland nach Frankreich geflüchtet und verstand sich als sozialistischer Sympathisant. Auf Einladung des russischen Schriftstellerverbandes reiste er im Dezember 1936 bis Januar 1937 nach der noch jungen Sowjetunion, um sich ein eigenes Bild von den dortigen Realitäten zu machen. Während seines zweimonatigen, von den Behörden sorgfältig organisierten Aufenthaltes wurde er von Stalin im Kreml zu einem zweistündigen vertraulichen Gespräch empfangen.
Feuchtwangers «Moskau 1937»
Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er noch im gleichen Jahr ein Buch mit dem Titel «Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde.» Darin beschreibt er seine Erfahrungen eloquent und durchwegs wohlwollend-optimistisch gefärbt. Das sowjetische Gesellschaftsexperiment ist für ihn ein erfolgreich vorwärtsstürmendes Zukunftsprojekt, eine hoffnungsvolle Alternative zum ausbeuterischen Kapitalismus und vor allem zum Alptraum der Naziherrschaft in Deutschland.
Von den Abgründen des stalinistischen Terrors gegen die eigene Bevölkerung, durch den hunderttausende von angeblichen Abweichlern hingerichtet oder in den Gulag verschleppt wurden und der im Jahre 1937 den Höhepunkt erreichte, ist nicht konkret die Rede. Feuchtwangers Gastgeber liessen ihn im Januar sogar während mehrerer Tage als Beobachter am zweiten Moskauer Schauprozess gegen frühere prominente Sowjetfunktionäre wie Radek und Pjatakow teilnehmen. Die Angeklagten wurden wegen «trotzkistischer Umtriebe» zum Tode verurteilt. Feuchtwanger zeigte in seinem Bericht Verständnis für das grotesk manipulierte Verfahren, weil die Sowjetmacht sich mit allen Mitteln gegen zahlreiche in- und ausländische Verschwörungen zur Wehr setzen müsse.
Der deutsche Schriftsteller wollte sich mit seiner Publikation «Moskau 1937» erklärtermassen von seinem französischen Kollegen André Gide distanzieren, der ein Jahr zuvor ebenfalls die Sowjetunion besucht hatte und bei aller Sympathie für sozialistische Ideen einen sehr viel kritischeren Bericht mit dem Titel «Retour de l’U.R.S.S.» über die Realitäten und Repressionen in Stalins Reich veröffentlicht hatte.
Feuchtwangers verklärende Erzählungen über seinen Moskauer Aufenthalt sind zwar schon bei ihrem Erscheinen von prominenteren Stimmen als propagandistisches Machwerk angeprangert worden, unter anderen von seinen Schriftstellerkollegen Arnold Zweig und den Geschwistern Klaus und Erika Mann. Doch erst lange nach dem Tod des Schriftstellers als Emigrant in Amerika ist detailliert dokumentiert worden, dass Feuchtwanger selber seine Erlebnisse und Erfahrungen in Moskau keineswegs derart einseitig und schönfärberisch beurteilte, wie er sie in seinem «Reisebericht für meine Freunde» geschildert hatte. Das geht neben anderen Hinweisen aus einem sorgfältig recherchierten Buch hervor, das die Slawistin Anne Hartmann 2017 unter dem Titel «Ich kam, ich sah, ich werde schreiben» 2017 im Wallstein-Verlag publizierte. Die Autorin stützt sich dabei auf umfangreiche Archivmaterialien wie Briefe und die erst später zugänglichen Tagebücher Feuchtwangers sowie Aufzeichnungen seiner damaligen Übersetzerin in Moskau.
Glaubt der Video-Reporter, was er erzählt?
Soweit zu den Abgründen zwischen Feuchtwangers vorgeblich ehrlichen und objektiven Moskau-Berichten im Terrorjahr 1937 und seinen eigenen persönlichen Erkenntnissen. Dies wirft die Frage auf, was denn von Köppels medialen Plaudereien aus Moskau und seinen wirklichen persönlichen Einsichten zu halten ist. Glaubt der selbsternannte Wahrheitssucher tatsächlich, was er in den Kulissen der russischen Hauptstadt seinem Video-Publikum auftischt? Wenn ja, dann kann man über seine putinistisch inspirierten Verdrehungen, Verharmlosungen und Unterschlagungen über das jetzige Repressionsregime und die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine nur gottergeben den Kopf schütteln.
Ich kann mit solchen wohlmeinenden Erklärungsmustern wenig anfangen. Köppel ist kein naiver Gläubiger, sondern ein abgebrühter Zyniker. Er schustert mit geschäftlichem Kalkül jene Versionen über Putins verbrecherische Politik zusammen, die ihn am schrillsten vom Feindbild des sogenannten Mainstream abheben und deshalb bei seinem Publikum am meisten schenkelklopfenden Applaus einbringen. Um eine Ahnung vom harten Kern der mehrheitlich ressentimentgeladenen Köppelschen Online-Gefolgschaft zu bekommen, muss man sich nur gelegentlich das Niveau der Leserkommentare zu seinen Dampfplaudereien bei «Weltwoche Daily» zu Gemüte führen.
Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, in Sachen politische Propaganda auch kein zartes Pflänzchen und bei seinem Aufenthalt in Moskau ebenfalls auf einem Auge blind, würde sich kaum zu Köppels kruden Putin-Vermarktungen hinzugesellen.