Von Carl Bossard
Noch nie war so viel von Frühförderung die Rede wie heute: Vivaldi hören im Mutterbauch, Mozart während des Stillens, spielerische Didaktik für Kinder in den Windeln, Bildschirmspielzeuge für Einjährige, Auslandsprachkurse für Kleine. Die Kindheit wird als Humankapital verstanden, das einzelne Kind optimiert wie ein Investment in die Zukunft. Kein Preis scheint zu hoch. Doch es gibt auch kritische Stimmen.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg
Die Angst geht um. Vor allem in den erodierenden Mittelschichten. Es ist die Angst vor dem sozialen Abstieg. „Statuspanik“ und „Bildungspanik“ nennt dies der Soziologe Heinz Bude: Bildung als Positionsgut in den verschärften gesellschaftlichen Prestigekämpfen. Wenn alle zur Bildung gelangen und alle ein Attest in den Händen halten, sinkt der Wert des eigenen Diploms: Inflation von Bildungszertifikaten als Folge der Bildungsexpansion. In einem Bild gesprochen: Wenn alle im Stadion aufstehen, um eine bessere Sicht zu haben, sieht niemand besser, als wenn alle sitzen bleiben.
Das ist der Effekt breiterer Bildung und erweiterter Bildungstitel: Es wird enger, das Aufstiegsgeschiebe massierter, der „Fahrstuhl nach oben“ unsicherer. Je mehr Kinder Zugang zu Bildung bekommen, desto kleiner wird der Kuchen, der zu verteilen ist. Da gibt’s für bildungsambitionierte Eltern nur eines: die eigenen Kinder noch konsequenter fördern – und noch früher beginnen. Vom zarten Babyalter an. Und zwar intensiv. Sie müssen also nicht mehr wissen, sondern sie müssen es früher wissen. Das hat Konsequenzen: Kinder können nicht mehr Kinder sein. Sie sind Inhaber von Potential, werden auf Verwertbarkeit hin beobachtet und als Ressource im weitesten Sinne verstanden, als etwas, das optimierungsfähig ist. Ihr Alltag ist überdidaktisiert, die Woche durchgetaktet und die freie Zeit auf ein Minimum reduziert.
Das Kind als Sinncontainer
„Eltern haben heute weniger Kinder, in die sie mehr investieren; zudem sind ihre Erwartungen grösser“, schrieb der Erziehungswissenschafter Jürgen Oelkers von der Universität Zürich (NZZaS, 7.12.14). Kinder werden so nicht selten zum Projekt. In ihnen manifestiert sich die Essenz von Individualität. Das Kind wird zum Sinncontainer der Moderne und soll sich darum gefälligst perfekt entwickeln: Es muss intelligent sein, pfiffig, möglichst ein wenig frühreif; es soll Manieren haben, beliebt sein und immer ein bisschen besser als die Nachbarskinder. Diesen Druck spüren die Kinder, gibt die emeritierte Hochschullehrerin Margrit Stamm zu bedenken.
Man kennt sie, diese Helikopter-Eltern, die jeden Schritt ihres Kinds begleiten und überwachen, die ihren Nachwuchs unablässig umschwirren und mit gutgemeinten Ratschlägen eindecken. Kinder müssen heute darum viel mehr wahrnehmen und aufnehmen als früher. Yoga im Säuglingsalter ist gefragt, Englisch mit drei Jahren keine Ausnahme. Prototypisch ist die chinesisch-stämmige „Tiger Mom“ Amy Chua. Die US-Rechtsprofessorin an der renommierten Yale-University propagiert einen rigorosen Erziehungsstil. Nur so gelänge es chinesischen Müttern, ihre Kinder erfolgreich zu machen.
Doch irgendwann wird das ein totes Rennen. Was wird aus dem fünfjährigen Dreisprachler, der schon ein Instrument spielt, was aus dem Jung-Mathematiker, der Differentialgleichungen in den Windeln löst? Aus der Forschung kennen wir die Gefahren dieser Hochleistungspädagogik. Die Kindheit mag sich verändert haben, die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder bleiben.
Frühere Einschulung – mit Folgen
Auch HarmoS hat den Schuleintritt nach unten gedrückt – und damit den Kindergarten. Er mutiert zu (Früh-)Schule. Erleben, Verweilen, Kind-Sein, das sind antiquierte Werte. Die Grundidee der Schule, die scholé, ist passé – statt dessen akademische Inhalte, naturwissenschaftliche Frühförderung, Normerfüllung bestimmter Curricula, Kinder am iPad, Zeichnen mit dem Notebook. Kita und Kindergarten werden so zunehmend zu Orten des Lernens.
Das passt zum Zeitgeist: Die Kinder sollen so früh wie möglich eingeschult und damit fit gemacht werden für den Arbeitsmarkt. Finnland dagegen, das mit seinen guten Pisa-Ergebnissen als Vorbild gilt, schickt die Kinder erst mit sieben Jahren in die Schule. Aus guten Gründen. Ein überforderndes Schulsystem macht krank. Aus unreifen Kindern würden kleine Erwachsene mit Verhaltensauffälligkeiten wie Angststörungen, Lernschwierigkeiten oder Aggressionen, schreibt DIE ZEIT (11.12.14). Eine kanadische Studie aus dem Jahr 2012 mit fast einer Million untersuchter Fälle zeigt, dass bei früh eingeschulten Kindern sehr häufig eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) diagnostiziert wird. Als Folge erhalten die Kinder Ritalin verschrieben; dabei sind sie schlicht zu jung, um so lange still zu sitzen. Bei den Jüngsten eines Jahrgangs ist das Risiko am höchsten.
Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak (1878 – 1942) forderte für die Kinder ein Recht auf das Hier und Jetzt und auf unmittelbare Gegenwart. Er betonte das zwecklose Verweilen im Moment und das freie, ungeplante Spielen. Die Kindheit als autonomes Stadium dürfe nicht verzweckt werden, das ökonomische Kalkül der späteren Nützlichkeit habe kein Eintrittsrecht in diese vorschulische Welt.
Korczaks pädagogisches Postulat hatte es in den letzten Jahren schwer. Frühförderung ist ausgerichtet auf zielgerichtetes Tun; dabei stört das freie Spiel nur. Es sei nicht effizient und darum nutzlos. So ging die Spielzeit im vorschulischen Kinderalltag in den letzten 20 Jahren um ein Drittel zurück. Ein dramatischer Befund.
Das Spiel als Königsweg des Denkens
Mit Alltagsdingen sollten Kinder spielen können, fordert die Kulturwissenschafterin Donata Elschenbroich. Sie hat während Jahrzehnten am Deutschen Jugendinstitut die Kindheit erforscht. Kinder müssen sich mit unprogrammierten Rollen- und Als-ob-Spielen beschäftigen, mit Bauklötzen, Tüchern, Kartonschachteln usw. Überdeterminierte Spielsachen wie Plastikhelme, die sogar das Sprechen übernehmen, lassen der kindlichen Fantasie keinerlei Raum. Das sei Dauerbespassung ohne Eigeninitiative, schreibt Susanne Gaschke in ihrem Buch „Die verkaufte Kindheit“. Davor warnt auch die Begabungsförderungsspezialistin Margrit Stamm in ihrer neuesten Studie. (1)
Im unstrukturierten und selbstinitiierten Kinderspiel dagegen liegt die Basis zu den späteren kulturellen Leistungen Erwachsener: Rollenspiele zum Beispiel sind Vorgänger von Literatur und Theater, aus dem Spiel mit Bauklötzen wachsen Kunst und Architektur. Die Hände – und das wusste schon Aristoteles – sind der äussere Verstand. Das Spiel wird so zum Königsweg des Denkens und Problemlösens. Kinder brauchen diese freie (Spiel-)Zeit. Nur so können sie in ihrem eigenen Tempo die Dinge und damit die Welt für sich erschliessen. Die „Welt“ als Metapher für das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, und Bildung als Wechselwirkung zwischen Ich und Welt.
(1) „Frühförderung als Kinderspiel. Ein Plädoyer für das Recht der Kinder aus das freie Spiel“. Bern 2014. Margrit Stamm ist Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern