Renommierte westliche Museen zögern mit der Restitution von Raubkunst. Aber selbst Empfängerländer wie Indien tun sich schwer mit der Bereitschaft (und Fähigkeit), gestohlene Kulturobjekte zu übernehmen.
Das fleischige kugelrunde Männchen mit den mürrisch herunterhängenden Lippen – eine Spottfigur, gezielt auf dessen Besitzer, das «Metropolitan Museum of Art» (MMA)? Das mächtige New Yorker Kulturinstitut, so schrieb der «Indian Express» Mitte März, führt in seinem Katalog weiterhin und unverfroren zahlreiche Kunstwerke wie diese Ton-Rassel auf, die von einem verurteilten indischen Kunsträuber vermittelt worden sind.
Der «Yaksha» – in der Hindu-Mythologie so etwas wie ein männlicher Kobold – gehört zu den 77 Objekten, die ein Team des «Express» und des internationalen Zusammenschlusses von Journalisten (ICIJ) im MMA-Katalog gefunden haben. Das Museum verdankt die Rassel aus dem Bengalen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, wie der Katalog ausdrücklich erwähnt, direkt oder indirekt dem Inder «Subhash Kapoor», sei es durch Ankäufe oder Schenkungen.
Kapoor sitzt im südindischen «Trichy» eine zehnjährige Strafe ab, nachdem ein Gericht ihn vor einem Jahr des illegalen Erwerbs, Schmuggels und Verkaufs einer Reihe von Bronze-Statuen und anderen Kulturgütern bezichtigt hatte. Er war 2011 auf dem Flughafen Frankfurt nach einer Interpol-Suchanzeige verhaftet und an Indien ausgeliefert worden.
Kein Handlungsbedarf
Trotz dem Rasseln der Journalisten sah das Museum bis heute keinen Handlungsbedarf. Konfrontiert mit diesen – hauseigenen – Katalogeinträgen antwortete es im Brustton moralischer Deutungshoheit: «The Met is committed to the responsible collecting of art and goes to great lengths to ensure that all works entering the collection meet the laws and strict policies in place at the time of acquisition. The Met also continually researches the history of works in the collection (…) and has a long track record of acting on new information as appropriate.»
Die letzte Bemerkung suggeriert, dass das MMA die Journalistenschelte nicht für würdig befindet, als «new information» zu gelten. Tatsächlich ist die Information nicht neu – doch dies macht das Beharren des MMA auf der reinen Weste Kapoors nur noch dreister. Denn bereits 2016 hatte das amerikanische Homeland Department die indische Regierung informiert, dass es Kapoor seit mehreren Jahren auf der Spur sei. Ihre eigene Untersuchungsabteilung war zum Schluss gekommen, dass er in den Schmuggel und Verkauf von nicht weniger als 2622 indischen Preziosen involviert war, ein grosser Teil davon Gemälde, Skizzen sowie eine Reihe von Skulpturen – wie etwa die Rassel mit dem drolligen Kobold. Dies hielt das Metropolitan aber nicht davon ab, weiterhin zu Kapoor zu stehen, etwa mit dem Katalog-Vermerk «Schenkung von Subhash Kapoor», manchmal mit dem Zusatz, dass dieser damit seine Gattin oder Tochter habe ehren wollen.
Doch so unverständlich die Hartnäckigkeit in diesem Fall ist – man muss auch zugeben, dass Museen im Westen oft gute Gründe haben, ihre Akquisitionen zu verteidigen, und verstehen, warum so wenige gestohlene und geschmuggelte indische Kulturobjekte ihren Weg zurückgefunden haben. Der Indian Express zitiert zwar einen Parlamentarischen Bericht, wonach zwischen 1947 und 2014 487 vermisste «historische Kulturobjekte» restituiert worden seien (darunter auch einige aus dem MMA).
5,8 Millionen schützenswerte Objekte
Diese auf den ersten Blick beachtliche Zahl schrumpft allerdings auf nahezu null, wenn man die offizielle Summe geschützter «Antiquitäten» danebenstellt, die in Indien Schutz geniessen. Allein der «Archaeological Survey of India» (ASI), die für alle «Kultur-Objekte von nationaler Bedeutung» zuständige Behörde, verfügt über 1,6 Millionen solcher Preziosen. Noch erstaunlicher: Lediglich ein Fünftel davon ist vom ASI bis heute registriert worden. Zählt man die Gegenstände in Provinz-Museen, Universitäten und privaten Sammlungen (darunter den Familien der über 500 früheren Maharadschas) hinzu, kommt man auf die enorme Zahl von 5,8 Millionen schützenswerten Objekten, ein Grossteil davon nur gezählt, nicht dokumentiert.
Der Umfang allein ist dagegen plausibel. Er spiegelt den schier unglaublichen Reichtum von Artefakten der indischen Kultur. Verschiedene Gründe lassen sich dafür anführen: Die zeitliche Tiefe und ununterbrochene Kontinuität dieser Kultur; die verwirrende und regional differenzierte Diversität religiöser Vorstellungen. Diese wiederum zeigen eine ausgesprochene Vorliebe für visuelle Ausdrucksformen, seien es architektonische, skulpturale oder bildhafte Darstellungen, abgesehen von den vielsprachigen (oralen, geschriebenen, gemeisselten) Vermittlungskanälen – Mythen, Epen, sowie religiöse, wissenschaftliche und juristische Texte.
Der indische Staat war 1947, wirtschaftlich ausgeblutet nach zwei Jahrhunderten Kolonialherrschaft, auf die Herausforderung fixiert, eine sozial und religiös fragmentierte Gesellschaft in eine staatliche Einheit zu überführen. Sie hatte kaum die Möglichkeit, die Masse von kulturellen Materialien rasch und systematisch zu erfassen und zu dokumentieren. Dies war von den englischen Kolonialherren nur bruchstückhaft durchgeführt worden, und sie verschwiegen die private und staatliche «Entführung» in die imperiale Metropole vollständig.
«Die grösste Herausforderung liegt in Indien selber»
Was bedeutet es für den Restitutionsprozess, wenn selbst eine Fachbehörde wie der ASI bis heute erst zwanzig Prozent seines riesigen «Besitzes» dokumentiert hat? In der Praxis heisst dies, dass ein Staat wie die USA den indischen Behörden die Existenz eines möglichen Schmuggel-Objekts zwar melden kann. Diese sind aber oft gar nicht in der Lage, den Verlust – oder nur schon die Existenz – dieser Antiquität zu bestätigen, eine selbstverständliche Voraussetzung, um die Rechtmässigkeit einer Restitution zu beweisen.
«Die grösste Herausforderung für eine Rückgabe liegt in Indien selber», urteilt der Bericht der Internationalen Journalistenvereinigung. Er erwähnt etwa ein Bild, das die Göttin Saraswati darstellt. Im Jahr 2016 boten die USA dessen Rückgabe an, da ein schwach lesbarer Bleistifteintrag am unteren Rand des Bildes lautet: «Purchased by SPS in 1918». Es handelt sich wahrscheinlich um das «Shri Pratap Singh Museum» in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs. Aber dieses konnte keinen Verlust feststellen, da eine Überschwemmung 2014 die Auflistung der über 80’000 Objekte im Museumsbesitz weitgehend zerstört hatte.
Auch wenn die meisten regionalen Museen nicht von solchen Katastrophen heimgesucht werden, muss man davon ausgehen, dass der Enthusiasmus (und die Arbeitszeit!) von Kuratoren staatlicher Museen für Restitutionen kultureller Objekte beschränkt ist angesichts der Aufgabe, grosse Lager-Bestände im eigenen Haus zu sichten und zu schützen.
Leihgabe?
Der Kunsthistoriker Naman Ahuja, Professor an der Nehru-Universität in Delhi, fügt hinzu, dass ausländische Museen ihre Bereitschaft zu einer Rückgabe mit Recht davon abhängig machen, dass das Objekt gemäss internationalen Standards gehalten wird. Dies bedeutet aber auch, dass es möglicherweise eine bessere Behandlung erfordert als das Gros der eigenen Museumsbestände.
In einem kürzlichen Zoom-Gespräch der Universität London zu diesem Thema stellte Ahuja die Frage, ob man sich eine Rückgabe nicht auch als einen rein juristischen Akt von Besitzerwechsel vorstellen könnte: Das fragliche Objekt bliebe an seinem bisherigen Standort, aber nun als Leihgabe einer kulturellen Institution in dessen ursprünglicher «Heimat».
Auch die Identifikation der empfangenden Institution ist laut Ahuja durchaus fragwürdig: Ist es ein Museum aus der Region, aus der das Objekt gestohlen bzw. erworben worden war? Oder ist es eine gesellschaftliche Gruppe, für die das Objekt Teil der eigenen kulturellen Identität ist? In Indien wird die Frage in diesen Tagen wegen der bevorstehenden Krönung von König Charles III. und Königin Camilla lebhaft diskutiert.
Stein des Anstosses
Camilla hat bereits angekündigt, bei der Krönung auf die Krone von Elisabeth II. zu verzichten, vermutlich, weil in ihr der berühmte «Kohinoor»-Diamant eingefasst ist – latent immer schon ein Streitpunkt, weil der grosse Stein mehr als andere Symbole imperiale Grösse und Besitzmacht signalisiert. Die Schatullen der privaten Crown Jewels, so hat der Guardian ermittelt, sind ohnehin gefüllt mit indischen Edelsteinen und Gold. Ob Geschenke oder Raubkunst, ob legale Käufe oder Kriegsbeute – die Zahl indischer Kulturobjekte ausserhalb Indiens dürfte sich ebenfalls in Millionenhöhe bewegen; der Anteil jener, die rechtmässig die Grenze überquerten, ist unbekannt – aber wohl auch gering.
Der Kohinoor stammt aus dem Schatz des Sikh-Königs Ranjit Singh (der ihn einem afghanischen König abgenommen hatte; dieser hatte ihn zusammen mit dem Pfauenthron dem Mogulkaiser in Delhi gestohlen). Er ist nur eines der vielen Preziosen, die sich die East India Company aneignete, als sie 1849 den Panjab eroberte.
Allein für sein Lieblingspferd hatte Singh einen Sattelgurt anfertigen lassen, der mit Smaragden eingefasst war. Der Guardian zitierte in seiner Recherche einen Tagebucheintrag von Emily Eden, die 1837 ihren Bruder, den Generalgouverneur von Britisch-Indien, bei einem Besuch des Maharadschas begleitete: «Er schmückt seine Pferde mit den feinsten Juwelen, und die Pracht des Zaumzeugs übersteigt alles, was man sich vorstellen kann.» Sie fügt hinzu: «Sollten wir einmal die Erlaubnis haben, dieses Königreich zu plündern, werde ich schnurstracks zu den Stallungen laufen.» (Noblesse oblige: Besitzgier muss mit Ironie verfeinert werden.)
Quizfrage: Welchem «Ur-Eigner» müsste das Zaumzeug wohl restituiert werden? Dem indischen Staat? Dem pakistanischen? (Ranjit regierte in Lahore.) Der (indischen/pakistanischen?) Provinz Panjab? Den Sikhs? Oder den Nachfahren des Maharadschas? König Charles muss gewiss nicht um seine Nachtruhe fürchten. Und Kobolde werden ihn höchstens im Traum anrasseln.