Selten stimmten die Wertungen der – staatlich kontrollierten – türkischen Medien mit den Aussagen der (tief)roten und grünen Oppositionsparteien im Berliner Bundestag so überein wie in den jüngsten Tagen. Nach Auffassung beider Seiten hat die Bundesregierung mit ihrer jüngsten Stellungnahme die Armenien-Resolution des Parlaments vom 2. Juni politisch und inhaltlich entwertet. Zugespitzt formuliert hiesse das, zumindest von deutscher Warte aus gesehen: Merkel und die schwarz/rote Führungsmannschaft versuchen offensichtlich, sich mit einem Kniefall die Gunst des über die Deutschen erzürnten Möchtegern-Sultans in Ankara wieder zurück zu gewinnen. Stimmt das?
Gefährlich aufgeheizte Stimmung
In der gegenwärtig aufgeheizten Stimmung ist es genau so schwierig, wie es klug wäre, einen kühlen Kopf zu bewahren. Wobei mit „Stimmung“ keineswegs nur die politischen Beziehungen zwischen den beiden Nato-Ländern gemeint sind, sondern auch die vielen unschönen Auswüchse im Verhältnis beträchtlicher Teile der deutschen Bevölkerung zu den rund 3,5 Millionen Türkischstämmigen im Lande. Die jüngste Demonstration von rund 50'000 sich geradezu enthusiastisch gebenden Erdogan-Anhängern in Köln hat gezeigt, welches Erregungs- und damit natürlich auch innenpolitisches Gefährdungspotential den Regisseuren jenseits des Bosporus in deren Bedarfsfall zur Verfügung steht.
Haben Merkel und die anderen Spitzenleute der Berliner Grossen Koalition also mit einem Kotau gegenüber Erdogan um Gutwetter gebeten? Tatsächlich reicht für die Antwort dazu ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ nicht aus. Richtig ist einerseits, dass die sofortige, regierungsamtliche Reaktion („Davon kann überhaupt keine Rede sein!“) eindeutig ist und eigentlich keine Zweifel zulässt. Wichtig ist jedoch auch, dass in dieser Erklärung die Formulierung enthalten ist, die Bundestags-Resolution zu dem (100 Jahre zurückliegenden) Massaker an Armeniern durch die damaligen Türken und dessen Bewertung als „Völkermord“ sei „rechtlich nicht bindend“. Also doch eine Distanzierung? Wiederum nein! Denn exakt dies war bereits im Vorfeld der Parlaments-Entschliessung als auch danach stets betont worden.
Dennoch eine Kraftprobe
In Wirklichkeit ist das, was sich in den vergangenen Wochen zwischen Berlin (Brüssel eingeschlossen) und Ankara vollzogen hat (und wohl auch noch weiterhin vollziehen wird) eine Kraftprobe. Das Nato-Mitglied Türkei, das seit vielen Jahren mit seinem Beitrittswunsch von den EU-Mitgliedern hingehalten wird, hat zum ersten Mal einen wirklich gewichtigen Trumpf in der Hand. Es sind die Millionen Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien, die sich auf türkischem Boden befinden bzw. von der türkischen Mittelmeerküste aus über Griechenland vor allem nach Deutschland möchten. Was das bedeutet und welche innenpolitischen Beben dadurch ausgelöst werden, haben die vergangenen zwölf Monate gezeigt, nachdem Deutschland und Österreich am 1. September 2015 ihre Grenzen für den dann über viele Wochen unkontrollierten Zustrom jener Abertausenden öffneten, die seinerzeit in Ungarn und anderen südosteuropäischen Ländern festsassen.
Nur wer absolut neben den Realitäten lebte, konnte schon damals glauben, dass die angebliche „Willkommenskultur“ Bestand haben würde. Man braucht eigentlich nur einmal Goethes „Hermann und Dorothea“ zur Hand zu nehmen, um zu erkennen, dass Fremde nie willkommen sind. Das war auch nicht der Fall, als nach dem Krieg jene 12 bis 13 Millionen Menschen aus dem Osten kamen, wegen deren Eingliederung man sich später in Deutschland so gern auf die Schultern klopft. (Anmerkung: Der Autor hat aus der Kindheit selbst noch den Ruf in den Ohren: „Macht die Türen und Fenster zu, die Zigeuner kommen.“) Nicht zuletzt die im abgelaufenen Jahr dramatisch abgesackten Beliebtheitswerte Angela Merkels und die geradezu explosionsartige, offene Verbreitung von nationalem bis rechtsextremistischem Gedankengut mit dem Anwachsen entsprechender politischer Kräfte zeigt, dass eine erneute Kraftanstrengung im Lande weder politisch noch gesellschaftlich verkraftbar wäre.
Erdogan kann alle Fäden ziehen
Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht übersehen, dass der ganz offensichtlich nach Regierungsallmacht strebende Erdogan bei der Kraftprobe nicht nur mit Angela Merkel, sondern auch mit der übrigen EU die Nase deutlich vorne und alle Fäden in der Hand hat. Er kann jederzeit die Flüchtlings-Schleusen öffnen und damit in Europa ein Chaos auslösen. Deshalb ist auch nur Vernunft geboten, so viel wie nur irgend möglich zu unternehmen, um zu einer rationalen Gesprächsebene zurückzukehren. Es ist im Übrigen auch zu vermuten, dass die Bundesregierung mit ihrer Klarstellung zu der Armenien-Resolution einem Drängen der Nato nachgekommen ist, die – logischerweise – die militärische Bedeutung ihres türkischen Partners in den Bürgerkriegen in Syrien und dem Irak als auch im Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat im Auge hat.
Merkel musste Kröten schlucken
Die Berliner Regierenden mussten ohnehin bereits hilflos zusehen, wie ihre Politik von Erdogan vorgeführt wurde. Man muss sich das nur noch einmal vor Augen halten: Deutschland stellt den Türken als Hilfe für den Nato-Partner nicht nur Flugabwehr-Raketen samt Bedienung, sondern auch „Tornado“-Kampfjets zur Verfügung. Und dann verbietet eben dieser Partner seinem deutschen Verbündeten, dass dessen Abgeordnete ihre Soldaten besuchen dürfen! Ein starkes Stück, das hinzunehmen erhebliche „Nehmer-Qualitäten“ fordert, wie es im Boxsport heisst.
Doch auch wenn gegenwärtig einige Zeichen auf Wiederannäherung deuten, sollte man sich nichts vormachen – es wird gewiss in Zukunft weitere, vielleicht sogar noch deutlich unangenehmere Konfliktsituationen geben. Die grosse Pro-Erdogan-Demo in Köln hat vor kurzem bereits angedeutet, welcher Einfluss von Ankara aus auf das innere Geschehen in Deutschland genommen werden kann. Dass in Köln keine Gewalt ausbrach, hatte mit Sicherheit mit genauen Regieanweisungen aus der Türkei zu tun. Dazu geht über die von der Regierung straff geführte Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) mit ihren Moscheen ein erheblicher Einfluss auf wesentliche Teile der in Deutschland lebenden Türken aus. Und manche Bilder aus den vergangenen Wochen machen – zurückhaltend formuliert – durchaus ratlos: Wie kann es nur sein, dass, nicht zuletzt junge Menschen, unter Ausnutzung der hier selbstverständlichen Rechte und Freiheiten, geradezu frenetisch einem Mann zujubeln, der gerade bei sich genau diese Rechte und Freiheiten abschafft?