Am 3. Juli 1866, als Österreich bei Königgrätz die Schlacht gegen Preussen verlor, brach der im heutigen Hradec Kralove als Beobachter anwesende päpstliche Nuntius Giacomo Antonelli entsetzt in den Ruf aus: „Casca il mondo!“ („Die Welt stürzt ein“). Ähnliche Empfindungen haben gewiss auch viele – wenn nicht gar die meisten – Politiker, Berater, Werbemanager und natürlich auch „einfache“ Parteifreunde gehabt, als im Verlauf des Sonntagabends die Ergebnisse der Europawahl wie ein Tsunami über sie hinwegfegten. Vor allem bei der CDU/CSU und der SPD. Sicher – dass die Wähler ihnen Dämpfer versetzen würden, darauf waren sie schon seit Monaten von den Meinungsforschern vorbereitet worden. Aber doch nicht das!
Dramatische Kräfteverschiebungen
Damals, vor mehr als 150 Jahren auf dem böhmischen Schlachtfeld, war die Welt nicht zusammen gebrochen. Und das wird jetzt, nach den Urnengängen zum Europaparlament und zur neuen Bremer Bürgerschaft (vergleichbar einem Landtag), auch nicht geschehen. Aber, ähnlich wie sich damals vieles veränderte, wird das auch jetzt geschehen. Schliesslich hat das Ergebnis vom Sonntag zu dramatischen Verschiebungen in den traditionellen Kräfteverhältnissen geführt. Und zwar in Deutschland wie in etlichen anderen EU-Mitgliedländern gleichermassen. Das betrifft, natürlich, in allererster Linie das Brüssel/Strassburger Parlament. Doch auch auf das innere Gefüge hierzulande hat dieser Urnengang tiefgehende Auswirkungen.
Von politischer Seite, dazu auch von zahlreichen Medien, war dieses Votum zum Europäischen Parlament immer wieder zur „Schicksalswahl“ erhoben worden. Die Wähler in den zur EU gehörenden (immer noch) 28 Mitgliedstaaten aber nutzten zu grossen Teilen die Abstimmung zur Abrechnung mit ihrer heimischen, nationalen Politikszene. Trotzdem, oder gerade deswegen, besteht – zumal in Deutschland – die Gefahr, national zutage getretene Eigenheiten oder Trends als auch für andere bestehend anzusehen. Richtig ist freilich: Die rund sieben Jahrzehnte lang als politische Stabilitätsanker und Gestaltungskräfte fungierenden „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD sind am Sonntag (zumindest für die aktuelle Zeit) abgewählt worden.
Das Hauptthema verschlafen
Aber gilt das auch für die Zukunft? Beide sind Regierungspartner in Berlin und damit ganz anders zu Kompromissen und Ausgleichen gezwungen, als sie es ohne Koalitionszwang wären. Richtig ist auch, dass sie (wie FDP, Linke, AfD ebenfalls) das Thema nicht erkannt haben, das am Ende die Wahl und Deutschland entschied: Kampf gegen den Klimawandel. Das ist einerseits erstaunlich, weil spätestens seit dem extrem trockenen Sommer im vorigen Jahr die Sorge bei den Bürgern vor starken Wetter-Eskapaden bei allen Gelegenheiten fast mit Händen zu greifen war. Daher ist es, andererseits, überhaupt nicht zu verstehen, dass weder Union, noch SPD auch nur den Ansatz einer vernünftigen Reaktion aufbringen mochten, als die freitäglichen Schülerdemonstrationen immer machtvoller wurden. Und – schlimmer noch – als ein wortgewandter, blauhaariger YouTuber namens Rezo vor allem die CDU nach allen Regeln der Kunst auseinander nahm. Mit Thesen und Behauptungen, die zwar zum allergrössten Teil keinen Faktencheck bestanden hätten, aber trotzdem fast neun Millionen Mal angeklickt wurden. Wahrheit hin oder her – hier sprach ein Repräsentant der Generation Online. Und er sprach deren Sprache.
Das ist das eigentlich Dramatische am deutschen Wahlergebnis. Noch ist nicht bekannt, wie viele Menschen Rezo und die Jüngerschar der 16-jährigen schwedischen Klimaschützerin Greta mit ihren Botschaften an die Wahlurnen gebracht haben. Tatsache ist indes auf jeden Fall, dass nicht zuletzt dadurch der ohne Zweifel sensationelle Erfolg der deutschen Grünen zustande kam. Die entscheidende Botschaft, verpackt in einem einzigen Wort: Klimaschutz. Und die Strategen in den träge und schwerfällig gewordenen Parteizentralen von CDU/CSU und SPD bekamen nicht mit, dass etwas gewaltig gärte im Land. Die Konsequenzen daraus? Ob die SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles geopfert werden wird, ist sehr ungewiss. Auf der anderen Seite hat die neue CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer auch innerparteilich ebenfalls schon einiges einstecken müssen. Und es stehen in diesem noch einige wichtige Wahlen an im Lande.
AfD im Osten stark
Die AfD ist vor allem im Osten Deutschlands, in Sachsen und Brandenburg stark. Dort wurde am Sonntag zusätzlich zu Europa auch noch kommunalpolitisch gewählt. Und ein Blick auf die mit Parteifarben versehene Deutschlandkarte weist für grosse Teile im Osten das von der rechtslastigen „Alternative für Deutschland“ (AfD) bevorzugte Blau auf. Deutet sich hier ein Nest, ein Brutkasten eines neuen Nationalismus aus? Eine solche These wäre wohl nicht richtig. Oder besser vielleicht: noch nicht richtig. Unbestreitbar ist, dass zwischen Erzgebirge und Ostsee grosse Vorbehalte in der Bevölkerung gegenüber dem unkontrollierten Flüchtlingsstrom bestehen. Das ist beileibe noch kein Indiz für eine Nazi-Gesinnung. Aber Tatsache ist halt auch, dass die im Osten stark gewordene AfD an ihren Rändern Leute duldet, die auch schon mal mit Hitler-Gruss durch die Strassen marschieren.
Doch der von nicht wenigen befürchtete, allgemeine und deutliche Anstieg eines Zuspruchs für die AfD ist in Deutschland ausgeblieben. Ob das eine Trendwende eingeleitet hat, ist schwer zu beurteilen. Umso spannender ist ein Blick auf das Wahlverhalten der Bundesdeutschen. Und da ist es schon fast atemberaubend, wie sehr die Kluft zwischen Jung und Alt mittlerweile gewachsen ist. Vereinfacht ausgedrückt: Von 16 bis 35 eindeutig und überwiegend grün mit ein bisschen rot; dagegen, mit zunehmendem Alter, deutliche Präferenzen für die „Altparteien“ SPD und CDU/CSU. Das führt, zwangsläufig, zu der Frage, inwieweit und ob überhaupt sich diese noch mit dem Begriff „Volkspartei“ schmücken dürfen. Denn unter dem „Volks“-Schirm müssten sich alle wiederfinden – alt und jung, reich und arm. Das ist, auf jeden Fall für den Moment, nicht mehr der Fall.
Wer bedroht wessen Zukunft?
Die Reaktionen der Parteizentralen – na ja. Als ob sie von dem weisen Ben Akiba geschrieben worden wären – alles schon mal da gewesen. Man habe sich mehr erwartet, wird geklagt. Leider habe man die Inhalte nicht rüberbringen können. Müssen jetzt erst einmal analysieren. Trotzdem: Dank an die Wähler, usw. usw. Jahrzehntelang eingeübte Rituale und Sprechblasen. Dabei wäre es wirklich dringend notwendig, das Augenmerk auf die drohende Spaltung der Gesellschaft zu werfen. Darauf, dass die Jungen den Alten vorwerfen, nur auf sich zu schauen und den Nachwachsenden die Zukunft zu verbauen. Und, umgekehrt, die Älteren den Jungen hinreiben, sie mögen nicht vergessen, wer ihnen ihr im Grossen und Ganzen doch gutes Leben finanziere und ermögliche. Ein solcher Konflikt kann leicht in einem Dialog zwischen Stummen und Tauben enden.
Und Europa? Jahrelang schien es ja so, als erschöpfe sich das allgemeine Interesse in den Nationalstaaten darin, finanzielle und wirtschaftliche Wohltaten aus Brüssel einzustreichen und im Übrigen weiter auf die „faulen Säcke“ und die „Überregulierung“ zu schimpfen. Dieser Trott ist mittlerweile durch einschneidende Geschehnisse erheblich gestört worden. Der Brexit, mit all seinen Nebenerscheinungen, war das eine. Die – vor allem 2015 einsetzende – Massenzuwanderung aus Nahost und Afrika mit all ihren Tragödien das andere. „Europa“ – also Brüssel – erwies sich objektiv oder auch nur in den Augen der Menschen unfähig, das Problem zu bewältigen. Doch was heisst „Europa“ und „Brüssel“ in diesem Zusammenhang. Es waren (und sind) die nationalen Mitgliedländer, die wegen ihrer jeweils speziellen Interessen eine wirksame, gemeinsame Politik verhinderten.
Am deutschen Wesen soll …
Das ist eben eine der vielen Widersprüchlichkeiten. Ganze Heere von Wählern sind unzufrieden mit dem Zustand der EU. Sie wollen ein besseres Europa – was aber nicht zwangsläufig heisst: „mehr Europa“. Wohl aber wahrscheinlich besseren Grenzschutz, Kontrolle der Migration, Bewahrung des Wohlstands und – ja gewiss auch – Klimaschutz. Doch das stützt mit Sicherheit nicht die in Deutschland populäre Behauptung, der Auftrag der Europäer heisse eindeutig Klimaschutz. Der ist in einigen Ländern wichtiges Thema. In Deutschland und Dänemark, Schweden und Großbritannien, in Österreich und Ungarn, nicht zu vergessen auch Frankreich. Freilich legten in Ungarn, Polen und Italien rechtspopulistische Regierungsparteien teilweise sogar kräftig zu. Und die wiederum haben Umwelt und Klimaschutz eher nicht aufs Panier geschrieben. Ob also am deutschen Wesen Europas Klima genesen soll oder gar wird, ist eher ungewiss.
Dies umso mehr als durch das Zurückstutzen der einstigen beiden deutschen „Volksparteien“ im neuen Parlament auch der Einfluss des bevölkerungsstärksten Landes innerhalb der EU abnehmen wird. Bislang war es so, dass Konservative und Sozialisten/Sozialdemokraten immer eine deutliche, strukturelle Mehrheit besassen. Und in beiden Gruppierungen wiederum waren die deutschen Abgeordneten zahlenmässig führend. Das ist nun vorbei. Mögen Grüne und Liberale auch gestärkt sein, sie können nicht die Machtlücken füllen. Aber sie besitzen die Schlüssel, um Mehrheiten zu organisieren. Das ist ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor.
China, Russland, Erdogan
Ist Europa, ist die Gemeinschaft nach diesen Wahlen gestärkt oder geschwächt? Eine Antwort darauf kann schon die Bildung der neuen Kommission geben. Aber viel wichtiger noch wird das künftige Verhalten der Nationalregierungen sein. Die EU hat den grössten Binnenmarkt auf der Erde. Und trotzdem betreibt sie keine offensive Wirtschafts- oder Industriepolitik, sondern schlingert zwischen den Machtblöcken USA, Russland und China. Ja die Union ist sogar ausserstande, mit so Möchtegern-Paschas wie Erdogan kraftvoll zu verhandeln. Über „Europa“ zu meckern, ist leicht. Es zu gestalten, dagegen sehr schwer. Aber lohnend.