Das 19. Zurich Film Festival (ZFF) ist am Sonntag zu Ende gegangen. 130’000 Eintritte konnte man während der zehn Tage verzeichnen, 7000 weniger als im Vorjahr. Stars waren trotz Streik in Hollywood da, einige davon auch zu einer «Master Class». Wagemutig ist die Wiedereröffnung des ehemaligen «Kosmos» bei der Europaallee, das mit seinen sechs Sälen nun vom Festival unter dem neuen Namen «Frame» als Ganzjahreskino betrieben wird.
Wenn das Kino schon der Ort ist, an dem ein Film seine verdiente öffentliche Würdigung (oder Abfuhr) erhält, so ist es das Filmfestival noch umso mehr. Hier wird der Film zum Ereignis gemacht, indem er begleitet wird von den Leuten, die ihn erst haben entstehen lassen. Doch wenn das Kino ob der Masse der Premieren vielerorts zum blossen Durchlauferhitzer geschrumpft ist, müssen sich auch die Festivals fragen, ob sich das (tendenziell schwindende) Publikum wirklich von all den «facts & figures» beeindrucken lässt: So viele Filme! So viele Eintritte! So viele Stars!
Aus eins mach drei
Für professionelle (internationale) Besucher (Medien, Industry) ist der Wettbewerb die Visitenkarte eines Festivals. Hier ist es aber auch am schwierigsten, an substanzielle Titel heranzukommen. In Europa grasen die grossen drei (Cannes, Venedig, Berlin) alles ab, was Rang und Namen hat oder verspricht. Eine Alternative, wie sie etwa die Viennale im deutschsprachigen Raum mit Erfolg praktiziert (hat), besteht darin, auf einen Wettbewerb zu verzichten und einfach für das einheimische Publikum eine möglichst attraktive internationale Auswahl zusammenzutragen (wobei man auch in Wien nicht ganz auf Preise verzichten will).
Dem Rest, und dazu gehören auch Locarno und Zürich, bleibt der Nachwuchs, den freilich auch die Grossen ködern, wo sie nur können. Wobei das mit dem «Nachwuchs» so eine Sache ist: Kristoffer Borgli, der Regisseur des ausgezeichneten Eröffnungsfilms, legt mit «Dream Scenario» seinen zweiten Kinospielfilm vor, ist aber auch schon 38.
In Zürich hat man sich gedacht, dass es noch etwas Besseres als einen Wettbewerb des Nachwuchses geben müsse: nämlich drei Wettbewerbe. Und so serviert man denn ein Monsterprogramm von 42 Titeln in drei Happen von je 14 Filmen: einen «Fokus Wettbewerb» für Schweiz, Deutschland, Österreich, einen Spielfilmwettbewerb und einen Dokumentarfilmwettbewerb. Das Schöne daran, jedenfalls aus Sicht der Festival- und Filmemacher: Es gibt dreimal so viele Preise.
Georgien, Iran, Afghanistan – alles «deutschsprachig»
Was die Wundertüte deutschsprachiger «Fokus» dieses Jahr jedenfalls geschafft hat: die beiden anderen Sektionen als eigentlich überflüssig zu erweisen. So waren hier etwa ein Spielfilm aus Georgien zu sehen (in majoritärer Schweizer Koproduktion), ein Spielfilm aus Iran (Produktion ZDF/Arte) und ein Dokumentarfilm aus Afghanistan (Produktion Deutschland/USA).
Alle drei sehenswert. Der georgische «Blackbird Blackbird Blackberry» hatte seine Uraufführung freilich dieses Jahr in Cannes und war seither bereits an sechs weiteren Filmfestivals in Europa und Australien zu sehen. Fokussierter noch als in «Wet Sand» (2021) und mit einer eindrücklichen Hauptdarstellerin entwirft Elene Naveriani hier ein georgisch-ländliches Stimmungsbild, das die Elemente des Titels, Amsel, Brombeere, lyrisch-verhalten den Aufbruch einer Frau umspielen lässt, die mit 48 endlich ihre Jungfräulichkeit zu beenden vermag und nun, ahnungslos, vor einer Schwangerschaft steht.
«Leere Netze», der Erstling des seit seiner Kindheit in Deutschland lebenden Iraners Behrooz Karamizade, in Karlovy Vary ausgezeichnet, inszeniert seine Erzählung gelegentlich noch etwas unbeholfen. Doch es gelingen immer wieder ausdrucksstarke, beinah dokumentarische Momente im Milieu von Fischern an einem winterlich stürmischen Kaspischen Meer. Beim illegalen Kaviargeschäft bleibt einem die bedenklich geringe Grösse des weiblichen Störs in Erinnerung, und der Fischmarkt mit seinen lebenden Tieren führt vor Augen, dass Tierschutz hier jedenfalls ein Fremdwort ist.
«Hollywoodgate» oder Das Versagen Amerikas
Wohl nicht zu Unrecht ist aber der «Afghane» mit einem Goldenen Auge, dem Hauptpreis, ausgezeichnet worden. Was «Hollywoodgate» des in Berlin lebenden Ägypters Ibrahim Nash’at, der bereits in Venedig für Aufsehen gesorgt hatte, zu zeigen hat, ist allerdings unglaublich. Gemäss Pentagon ist durch den katastrophal organisierten Rückzug der US-Streitkräfte aus Afghanistan Ende August 2021 amerikanisches Militärmaterial im Wert von 7,12 Milliarden Dollar im Land zurückgeblieben. Zu besichtigen ist hier das Resultat dieses Trump-Bidenschen Joint Venture in verheerend-dilettantischer Aussenpolitik.
Einen Tag nach dem Abzug der Amerikaner beginnt Malawi Mansour, der neue, sichtlich auf Aussenwirkung bedachte Luftwaffenchef der Taliban, mit der Inspektion der riesigen CIA-Basis – deren einzelne Komplexe tatsächlich mit «Hollywoodgate 1» oder «Hollywoodgate 4» angeschrieben sind. Flugzeuge, modernste Sturmgewehre, Munition, technisches und medizinisches Material sind da in kaum glaublichen Mengen zurückgelassen worden, zum Teil notdürftig und keineswegs irreparabel beschädigt. Begleiten lässt sich Mansour, zum offensichtlichen Verdruss seiner Leute, von Nash’at, der mit seiner Kamera während eines Jahrs die Machtübernahme der Taliban zuhanden der Weltöffentlichkeit dokumentieren soll. Nun im Besitz einer Luftwaffe, die am Schluss ein prahlerisches Defilee krönt, spricht Mansour ganz ungeniert davon, diese bald einmal einsetzen zu wollen, zum Beispiel gegen Tadschikistan, das keine Flugzeuge besitze.
Was der Film wie nebenbei auch noch zeigt: Männer, Männer, Männer. Frauen sind aus der Öffentlichkeit entfernt; umso bestürzender das Bild von Mutter und Kind, die da, kaum wahrnehmbar im Schneeregen, mitten auf einer vielbefahrenen Kreuzung wohl in Kabul verloren im Schneematsch kauern.
Der Eröffnungsfilm oder Läderach und das Einknicken
Viel Lob, und dies zu Recht, hat Christian Jungen, der Künstlerische Direktor, für die Wahl des Eröffnungsfilms erhalten, den das ZFF in Europapremiere zeigen konnte. Er hätte es sich allerdings wohl nicht träumen lassen, dass «Dream Scenario» seine Thematik plötzlich auch auf das Festival anwendbar machen würde.
Dort hatte man eben noch stolz die neue «Partnerschaft» mit dem Chocolatier-Haus Läderach verkündet. Zu der man, ein respektabler Entscheid, auch stand, nachdem SRF, zufällig eine Woche vor Festivalbeginn, eine (offenbar sehr einseitige) Dokumentation zu Praktiken in einer vom früheren Firmenchef mitverantworteten Privatschule ausgestrahlt hatte – nur um einen Tag später den Rückzieher zu machen und sich aus Angst vor der Öffentlichkeit eiligst vom heutigen Haus Läderach zu distanzieren.
In «Dream Scenario» erprobt der Norweger Kristoffer Borgli gewissermassen die Umkehrung seines erbarmungslos konsequenten Erstlings «Sick of Myself» (2022), in dem eine junge Frau aus der Osloer «Szene» mit wirklich allen Mitteln versucht, sich in Szene zu setzen. Nun ist es ein unscheinbarer Professor an irgendeinem amerikanischen College, der alles andere als das Rampenlicht sucht, in dem er unversehens steht. Nicholas Cage, zu jeder Tages- und Nachtzeit in der gleichen uralten Parka mit Pelzbesatz, verkörpert perfekt diesen mitleiderregenden Evolutionsbiologen, dem es widerfährt, dass er plötzlich in fremden Träumen zu erscheinen beginnt: erst der Tochter, dann der Studenten, dann aller anderen. Er wird zur Celebrity, man reisst sich um ihn – bis alles umschlägt, bis er in ersten Träumen als gewalttätiges Monster erscheint (das er nie war). Nun fletscht die Hydra ihre Zähne, wird ihm sein Leben gecancelt, der Job, die Frau, das Haus, kulminierend in der Szene, in der er von einem maskierten Combat-Bogenschützen, der kein anderer als er selber ist, erlegt zu werden droht. Der Film kennt seinen C. G. Jung und arbeitet geschickt an der Trennlinie zwischen Traum und Realität.
Attraktives Gala-Programm
Anders als der Wettbewerb mit seinen eher «kleinen» Filmen, versammelte das «Gala-Premieren» genannte Programm neben Highlights aus Cannes und Venedig auch weitere attraktive Titel, die in den nächsten Monaten hoffentlich hierzulande in die Kinos gelangen werden. Schön süffig angerührtes grosses Kino ist «Maestro», Bradley Coopers Annäherung an Leonard Bernstein. Der 1965 geborene Schauspieler hat bereits in seiner mit Lady Gaga realisierten ersten Regiearbeit, «A Star Is Born» (2018), gezeigt, dass er auch von Musik etwas versteht. Bernstein ist natürlich ein nochmals anderes Kaliber, und wenn der Film (nachvollziehbarerweise) etwa dessen umfangreiche Dirigententätigkeit in Europa völlig beiseitelässt, so gelingt ihm doch ein einleuchtendes Porträt dieser von Kreativität geradezu überschäumenden Persönlichkeit.
Die absurde Diskussion, die um Bernsteins «jüdische Nase» losgetreten wurde, hat zur Folge, dass man während der ersten Viertelstunde nur immer auf das prothetisch tadellos gefertigte Teil starrt, bis man endlich auch das vergisst. Neben der Musik gewinnt Bernsteins Ehe zusehends an Bedeutung, und was Carey Mulligan in der Rolle dieser Felicia Montealegre vor allem in der zweiten Hälfte des Films zeigt, ist überragend.
Carey Mulligan, seit Lone Scherfigs «An Education» (2009) als eine der herausragenden britischen Schauspielerinnen etabliert, war noch in einer weiteren, allerdings kleineren Rolle zu sehen, in Emerald Fennells «Saltburn», dem Abschlussfilm. In dieser grimmigen Satire, ausnahmslos erstklassig besetzt, brilliert Barry Keoghan als eine Art «talented Mr Ripley», der, ein Fremdkörper im snobistischen Oxforder Unimilieu, sich aufmacht, in einem Szenario wie von Evelyn Waugh die exzentrisch-adeligen Bewohner des manor house Saltburn zu eliminieren. Keoghan war letztes Jahr in «The Banshees of Inisherin» zu sehen gewesen; einen Namen geschaffen hatte er sich als unheimlicher jugendlicher Rächer in Yorgos Lanthimos‘ «The Killing of a Sacred Deer» (2017).
Jahrhundertwenden
Lanthimos wiederum war dieses Jahr mit «Poor Things» zu Gast, seiner fast zweieinhalbstündigen Frankenstein-Paraphrase, die onirisch-delirierend ein surreales Europa der Belle Epoque durchmisst. Hier muss genügen, dass eine phänomenale Emma Stone diese Bella verkörpert, die Selbstmörderin, deren wieder zum Leben erwecktem Leib Dr. Baxter (Willem Dafoe als selber schon übel zusammengeflicktes Resultat eines Bastlerchirurgen) das Gehirn ihres Fötus implantiert hat…
Zwei weitere Filme waren ebenfalls um die vorletzte Jahrhundertwende angesiedelt. Ohne die geringsten Schauereffekte, vielmehr um Aufklärung bemüht, entwickelt «La nouvelle femme (Maria Montessori)» von Léa Todorov zusammen mit teilweise sichtlich schwerbehinderten Kindern das Anliegen der Pionierin, hier zu einem neuen Verständnis zu gelangen. Zugleich weitet sich der Film zur feministischen Kampfansage, indem er die gesellschaftlichen Zwänge und Vorurteile, denen auch Montessori unterworfen war, differenziert aufzeigt.
In «La passion de Dodin Bouffant», der demnächst unter dem Titel «Pot-au-feu» ins Kino kommen soll, ist jeweils beiläufig die Rede von Brillat-Savarin, von Carême, von Escoffier – und wenn hier auf deren Niveau der cuisine française gefrönt wird, dann eben nicht als Haute Cuisine, sondern als ein Prozedere in fast schon rustikalem, jedenfalls privatem Rahmen. Der Vietnamese Tran Anh Hung, seit langem in Frankreich ansässig, hat sich für seine gastronomische Eloge der Dienste des Sternekochs Pierre Gagnaire versichert, dessen Brigaden man vor dem inneren Auge unsichtbar am Werk sieht, wenn Juliette Binoche und Benoît Magimel ihren Gästen Ortolan (die Fettammer, die es unter der Serviette versteckt zu verzehren gilt) oder die fabelhafte Omelette norvégienne vorsetzen – wobei die Arbeitsschritte immer erkennbar bleiben. Die beiden sind hier erstmals seit einem Vierteljahrhundert wieder zusammen zu sehen, seit Diane Kurys’ «Les Enfants du siècle» (1998), wo sie das Liebespaar George Sand und Alfred de Musset verkörperten.
Der unsichtbare Krieg
Wovon wäre noch zu reden? Unbedingt von «A Little Prayer» von Angus MacLachlan, in dessen Begebenheiten eben auch, aber nur ganz indirekt der Krieg in Vietnam und der im Irak hineinspielen. Erzählt wird, in subtilsten Abschattierungen, eine Liebesgeschichte, die gar keine ist: diejenige zwischen Bill, dem Patriarchen, der in einem mittelständischen North Carolina die Welt um sich herum zerfallen sieht, und Tammy, seiner wunderbaren Schwiegertochter, die ihren Mann verlassen wird. Ein souveräner David Strathairn und eine hinreissend zurückgenommene Jane Levy tragen den Film mit seinem raffiniert zweifach hergeleiteten Titel.
Oder von «The Zone of Interest», Jonathan Glazers meisterhafter Umsetzung von Martin Amis‘ 2014 erschienenem Roman. In streng ausgemessenen Räumen und abgezirkelten Bewegungen entfaltet sich die unvorstellbare Szenerie des Familienlebens von Rudolf Höss direkt an der Mauer zu Auschwitz, wobei das Konzentrationslager nur mittelbar auf das Geschehen einwirkt, akustisch und als düstere Kulisse. Und als Quelle von «Lieferungen», sei’s von Wäsche für die Dienstboten, sei’s der Pelzmantel für die Dame des Hauses (die furchterregende Sandra Hüller), sei’s von Zähnen, mit denen der Bub dann spielt.
Landschaften, durch die (im Krieg) Panzer hindurchgefahren seien, könne man nicht mehr einfach so malen, sagt der Maler Anselm Kiefer in Wim Wenders‘ Porträt «Anselm». Wiederholt kommt Paul Celan zu Wort, auch mit der «Todesfuge», auch Ingeborg Bachmann, Beuys, Heidegger. In Erinnerung bleiben einem die Ateliers des Malers, etwa dasjenige in Frankreich, wo in der ersten Einstellung ein Bild ins Filmbild hereingeschoben wird – und erst das Männchen ganz am Schluss, das es stösst, die gewaltigen Dimensionen des Hangars augenfällig macht, in dem sich der Künstler per Hebebühne zum oberen Bildrand transportieren lässt und wo er nur mit dem Velo unterwegs ist.
Heute abend ins Kino?
Bleibt das neue Kino, das sich das ZFF angelacht hat. Die Programmierung war im alten «Kosmos» wohl das kleinste Problem. Im neu «Frame» betitelten Komplex mit seinen sechs Sälen will man nun offenbar noch mehr auf «Rahmenprogramme» setzen. Was sich nicht geändert hat, jedenfalls nicht zum Bessern, ist die Erreichbarkeit am Ende der Europaallee. Wer nicht im Kreis vier oder fünf wohnt, wer nicht zu Fuss oder mit dem Velo kommen will, hat eine mühsame Fahrt vor sich – die mit dem genial ausgeheckten neuen «Langsamverkehr» in der Langstrasse nun noch mühsamer geworden ist.