Das Treffen war kurz – und er höflicher, als ich es war. John le Carré ass mit Freunden in der Zürcher «Kronenhalle» und ich sass per Zufall im selben Lokal. Ich war mir aber nicht ganz sicher, ob er war, wen ich meinte, und so trat ich beim Verlassen des Restaurants kurz an seinen Tisch: «Excuse me, but are you who I think you are?» Er fragte zurück: «Who do you think I am?» Ich antwortete: «I think you’re Mr. John le Carré.» Und er sagte: «Yes, I’m afraid I am.» Ich fürchte, ich bin es.
Die Anekdote wäre banal, wüsste man nicht, wie zurückhaltend John le Carré stets war, Persönliches oder allzu Privates zu verraten. Während Jahren war er sich nicht sicher gewesen, ob er Adam Sisman für dessen 652-seitige Biografie erlauben solle, sich während Stunden mit ihm zu unterhalten, sein Archiv zu durchforsten und dann über sein Leben zu schreiben. «Er hat sich Ereignisse aus der Vergangenheit für seine Romane erneut vorgestellt», sagt Biograf Sisman: «Und woran er sich später erinnert, ist eher ein fiktionales Sich-wieder-Vorstellen, als was tatsächlich geschehen ist.»
Schwierige Kindheit
Umso überraschender, dass es John le Carré nicht lassen konnte, unter dem Titel «A Pigeon Tunnel» später selbst noch eigene Memoiren zu verfassen, die allerdings eher anekdotisch als selbstkritisch sind: «Mich erschreckt der Begriff Autobiografie, weil ich bereits dabei bin, die Lügen zu konstruieren, die ich erzählen werde.»
Er, der als Spion fungiert hatte, war stets auf der Hut, nicht zu viel über sich selbst preiszugeben – ein Selbstschutzmechanismus, den er sich wohl bereits als Kind angeeignet hatte. Als Sohn eines kriminellen Vaters, Ronnie Cornwell, der als Betrüger, Hochstapler und Lebemann wiederholt im Gefängnis sass, und den er als «manipulativ, mächtig, charismatisch, schlau, nicht vertrauenswürdig» beschrieb. Trotzdem hat John le Carré 1998 im «du» auf die Frage à la Proust, welche Fehler er am ehesten entschuldige, geantwortet: «Lügengeschichten, Flirts, unangebrachten Humor, falsch verstandenen Mut».
Stolzer Familienvater
Seine Mutter kannte er kaum. Sie verliess die Familie angeblich aus Angst vor Übergriffen ihres Mannes, als David fünf Jahre alt war, und er sollte sie erst 16 Jahre später wiedersehen. Kritikern zufolge sind denn auch die Frauen, die John le Carré in seinen frühen Spionageromanen zeichnet, häufig Karikaturen. «Ich bin ohne sie aufgewachsen und sie sind mir stets fremd geblieben», hat er einmal zum Thema Frauen bemerkt. Was ihn aber nicht daran hinderte, zweimal zu heiraten und vier Söhne zu zeugen.
John le Carré hatte 14 Grosskinder und drei Urenkel, deren Gesellschaft er im Haus der Familie in Cornwall auf einer Klippe über dem Atlantik genoss und die ihm ein Plakat schenkten, das er stolz an die Wand seines Büros hängte. Es war die Persiflage eines britischen Posters aus dem Zweiten Weltkrieg: «Keep Calm and le Carré on.» Er räumte aber ein, weder ein perfekter Ehemann noch ein perfekter Vater gewesen zu sein und auch kein Interesse daran zu haben, als solcher zu gelten.
Akribischer Rechercheur
Spionieren sei als Thema nicht le Carrés wahres Sujet, hat der britische Historiker Timothy Garton Ash 1999 im «New Yorker» über den Autor geschrieben: «Sein Thema ist der endlos trügerische Irrgarten menschlicher Beziehungen: der Verrat, der eine Art Liebe ist, die Lüge, die eine Art Wahrheit ist, gute Menschen, die schlechten Zwecken dienen, und schlechte Menschen, die Gutes tun.»
John le Carré pflegte akribisch zu recherchieren, bevor er seine Bücher verfasste. Am Ende waren es mehr als zwei Dutzend Werke, von denen etliche mit Erfolg verfilmt oder als Fernseh-Serien ausgestrahlt wurden. Schon den ersten Roman, der 1961 unter dem Titel «Call for the Dead» erschien, hatte er wie seine späteren Werke von Hand niedergeschrieben: «Ich ziehe es vor, der Jahrhunderte alten Tradition des nichtmechanischen Schreibens zu frönen. Der Möchte-gern-Grafiker in mir geniesst es ungemein, die Worte zu zeichnen.» A propos Recherche: Einem Journalisten, der ihn später nach der Erinnerung an gewisse Ereignisse fragte, welche die beiden zusammen erlebt hatten, antwortete er: «Dein Job ist es, die richtigen Fakten zu finden. Meiner ist es, sie in gute Geschichten zu verwandeln.»
Früher Erfolg
Das Schreiben hat John le Carré stets über alles geliebt: «Immerfort zu kritzeln, wie ein Mann, der sich hinter einem schäbigen Schreibtisch versteckt.» Auf die Frage, was für ihn das vollkommene irdische Glück sei, hat er seinerzeit im «du» gesagt: «Ein komfortables Hotel, wo mich niemand kennt, mit gutem Zimmerservice und einem guten Buch.» Und wie möchte er sterben? «Eine zielsichere Kugel. Während ich von einem neuen Buch träume und in eine andere Richtung schaue.» Nun ist er am Wochenende in Cornwall im Alter von 89 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben.
Bereits drei Jahre nach Erscheinen seines ersten Buchs schaffte John le Carré den weltweiten Durchbruch mit dem Roman «The Spy Who Came in from the Cold», den Graham Greene, einst selbst Agent, «die beste Spionagegeschichte» nannte, die er je gelesen habe. Es ist die Geschichte des britischen Agenten Alec Leamas, der für eine heikle Mission verdeckt nach Ost-Berlin geschickt, von beiden Seiten verraten und bei der Flucht aus der DDR an der Berliner Mauer erschossen wird. Für Leamas, im Film unvergesslich von Richard Burton gespielt, sind Spione «eine Prozession von eitlen Narren und, ja, auch von Verrätern; von Weicheiern, Sadisten und Trinkern, von Leuten, die Cowboys und Indianer spielen, um ihre verfaulten Leben aufzuheitern.»
Authentische Schauplätze
Seine Tätigkeit für den britischen Geheimdienst hatte den jungen Autor gezwungen, ein Pseudonym anzunehmen: Aus David Cornwell wurde John le Carré. Wobei er sagte, er wisse nicht mehr, wie er auf den neuen Namen gekommen sei. Und er verriet auch nie, was genau er in den frühen 1960er-Jahren als britischer Agent in Berlin gemacht hatte. Glamourös war die Tätigkeit wohl nicht, anders als im Fall seines fiktiven Vorgängers James Bond, den Autor Ian Fleming (1908–1964) als Charmeur, Lebemann und Verführer erster Güte zeichnete.
Auch mangelte es le Carrés Schauplätzen im Vergleich zu jenen Flemings an High Life und Exotik. Doch sie machten das wett mit unverwechselbarer Authentizität und einzigartiger Atmosphäre, sei es London, Moskau oder Hongkong, sei es Bern, Hamburg oder Nairobi. «Alles in seinen Romanen, vom Wetter über die Kleider bis hin zu den feinkörnigen moralischen Entscheidungen scheint in Grautönen gehalten zu sein», schreibt Matt Schudel im Nachruf für die «Washington Post».
Schweizer Wurzeln
John le Carrés fiktive Darstellung von Spionage hat gemäss dem britischen Autor Anthony Burgess (1917–1993) ihre Wurzeln in der Wirklichkeit: «Den Leuten, die den (britischen) Geheimdienst leiten, mangelt es völlig an Glamour, ihr Dienst hat nicht genug Geld und sie kämpfen gegen die Krassheit von Politikern. Ihre Agenten im Feld fürchten sich, machen Fehler und erkranken ob einem Gewerbe, in dem sich die gegnerischen Seiten zu häufig zu vermischen und dieselben Gesichter zu haben scheinen.»
Der Erfolg von «Der Spion, der aus der Kälte kam» erlaubte es John le Carré, selbständig zu werden und sich vom Secret Service zu verabschieden, der ihn in den späten 1940er-Jahren «als Laufjunge im Teenager-Alter» angeworben hatte, nachdem er als 16-Jähriger vor seinem dysfunktionalen Vater nach Bern geflohen war, wo er an der Universität Germanistik und neue Sprachen studierte, um später nach Oxford zu wechseln. In einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen verriet der Autor 1989, die Schweiz sei für ihn «eine zweite Heimat» und Bern seine «Mutterstadt» geworden, ein Land und ein Ort, die wiederholt als Schauplätze in seinen Werken auftauchen. Er besass auch ein Chalet in Wengen, «eine kleine Schachtel, nichts Prunkhaftes», dessen Grundstück er aus dem Erlös des Bestsellers erworben hatte.
Schlüsselfigur George Smiley
Eine zentrale Figur in John le Carrés Schaffen ist stets Geheimdienstchef George Smiley geblieben, «kleingewachsen, dick, und von eher stiller Natur», ein Staatsdiener, dem nichts Menschliches fremd ist, der seinen sowjetischen Gegenspieler Karla verrät und von seiner Frau verraten wird. Er taucht im ersten Roman des Autors auf, spielt in den 1970er-Jahren eine zentrale Rolle in einer Trilogie und tritt 2017 noch einmal in le Carrés zweitletztem Roman auf. «A Legacy of Spies» zieht ein Fazit des Kalten Krieges: «Was damals geschah, hat sich als fruchtlos herausgestellt. Spione haben den Kalten Krieg nicht gewonnen. Sie machten auf Dauer gesehen überhaupt keinen Unterschied.»
Als der Kalte Krieg 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerreissen des Eisernen Vorhangs zu Ende ging, sahen etliche Literaturkritiker auch das Ende des klassischen Spionageromans voraus. Doch John le Carré liess sich nicht beirren und verlegte sein schriftstellerisches Interesse auf andere aktuelle Themen: auf Waffenhandel, Geldwäscherei, den Nahost-Konflikt, die Macht von Pharma- und Rohstoffkonzernen, den Krieg gegen den Terror oder schliesslich, wie im letzten Buch «Agent Running in the Field», den Brexit.
Langer Lauf
Dabei machte er aus seiner Verachtung für die amerikanische Militärintervention im Irak oder die Rolle von Premierminister Boris Johnson bei Grossbritanniens Austritt aus der EU keinen Hehl, was ihn etliche Sympathien kostete, ihm aber egal war. Konsequent lehnte er auch britische Adelstitel oder Literaturpreise ab. Nur Schwedens Olof-Palme-Preis für Verdienste in Sachen sozialer Sicherheit hat er im vergangenen Jahr noch entgegengenommen.
«Ich glaube, er hat sich problemlos aus einer Rolle als Genre-Autor verabschiedet und wird vielleicht als Grossbritanniens wichtigster Romancier in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Erinnerung bleiben», sagte der britische Schriftseller Ian McEwan gegenüber dem Londoner «Telegraph». Der grosse George Orwell hat einst bemerkt, ein kreativer Autor könne lediglich erwarten, während 15 Jahren seines Lebens in Bestform zu sein. John le Carré ist es während fast 60 Jahren geblieben.
Quellen: The Guardian, The New York Times, The New Yorker, The Washington Post, The Pigeon Tunnel, Wikipedia, "du"