Die rückwärtsblickenden, verharrenden Kräfte im Bundeshaus plädieren für ein Weltbild, das weder der realen noch der humanitären, gesamtschweizerischen Idealvorstellung entspricht. Dieser unrühmliche Zustand muss sich ändern. Aufwachen, Bern!
Die Welt in Zeiten des Ukrainekrieges
Wenn der «Economist», eine angesehene liberale Wochenzeitung, gelegentlich einen Beitrag zur Schweiz publiziert, muss das aus globalpolitischer Optik einen wichtigen Grund haben. Im Titel heisst es: «Countries that consider themselves ‹neutral› must adapt to a new world» («Länder, die sich als ‹neutral› betrachten, müssen sich einer neuen Welt anpassen»). Am Schluss des Artikels wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass auch die Schweiz angesichts des Ukrainekrieges ihre Meinung ändern könnte. Dies wäre «a welcome decision to join the real world» («ein willkommener Entscheid, sich der realen Welt anzuschliessen»).
Viele Schweizerinnen und Schweizer brauchen den «Economist» nicht, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie sind aus Überzeugung längst gleicher Meinung – und finden es höchstens peinlich, dass eine Mehrheit unseres Bundesrats und Parlamentes nicht schon seit Monaten zum gleichen Schluss gekommen ist. Da überfällt ein machtbesessener Autokrat eine Nation, die sich mit den freiheitlichen Demokratien Westeuropas mehr verbunden fühlt als mit den russischen, völkerrechtsverachtenden Machtentfaltungsträumen eines Putins. Dafür wird sie mit einem brutalen Krieg bestraft. Unser Land ist auch eine westeuropäische Demokratie, sogar eine sehr alte. Würden wir Zielscheibe einer vergleichbaren Attacke, wären wir wohl froh um Unterstützung befreundeter Nationen Europas.
Die Schweiz, ein Land von Neutralitätsexperten
Tatsächlich scheinen alle Erwachsenen in der Schweiz Neutralitätsexperten zu sein. Allerdings basieren ihre Kenntnisse nicht überall auf der realen geschichtlichen Entwicklung einer neutralen Schweiz, sondern eher auf sich widersprechenden Interpretationen altgedienter Parteieinflüsterer oder reaktionärer Redaktoren von Wochenzeitungen. Es ist deshalb wohltuend, von einem Historiker zu hören, der von 1998 bis 2014 Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz war. Marco Jorio heisst der Mann. Er hat ein Buch zur schweizerischen Neutralität geschrieben und dazu in einem Interview im Tages-Anzeiger interessante Ansichten geäussert.
Jorio kritisiert Bundesrat Berset für seine Äusserung, die Schweiz und Europa befinde sich im «Kriegsrausch», ja er kritisiert den Gesamtbundesrat dafür, «dass dieser stur an einer exzessiven und überholten Neutralität festhält». Das Kriegsmaterialausfuhrgesetz habe wenig mit Neutralität zu tun, schiebt er nach, «die Ausfuhrbeschränkungen auch noch bei Gepard-Munition aufrechtzuerhalten, die vor 30 oder 40 Jahren gekauft wurde, ist absurd».
Zu der im Mai 2022 von Christoph Blocher lancierten «immerwährenden» Neutralitätsinitiative äusserte sich Jorio ebenfalls: «Eigentlich ist das eine Pro-Putin-Initiative, weil sie faktisch dem Aggressor hilft, seine wirtschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten.» Ich bin gleicher Meinung.
Der Mythos unserer «bewährten» Neutralität
Der Bundesrat interpretiert unsere Neutralität seit 30 Jahren rückwärtsgerichtet und hält es nicht für nötig, Funktion und Stellenwert «angesichts eines massiv veränderten Umfeldes zu überprüfen», wie Alt-Ständerat und emeritierter Professor für öffentliches Recht an der Uni Basel René Rhinow in der NZZ kritisiert. Wenn uns dann freundlich gesinnte Staaten schlicht nicht mehr verstehen, wen wundert’s? Das «Bewährte» bezieht sich auf die Vergangenheit, wo doch ein faktenbasierter Blick in Gegenwart und Zukunft angesichts gewaltiger Veränderungen in Geopolitik und Völkerrecht angebracht wäre. Rhinow plädiert dafür, unsere Neutralität an die veränderten Herausforderungen anzupassen. Denn auch wenn diese Neutralität ihre Schutzfunktion längst verloren habe, bleibe sie ein Identitätsmerkmal, das nicht aufgegeben, sondern aktualisiert werden sollte.
Aufwachen, Bern!
Das kleinliche Verständnis von Neutralität einer Mehrheit unserer Politiker und Politikerinnen in Zeiten, da die Ukraine brutal angegriffen wird, ist fragwürdig. Wenn ich mich umhöre, meine ich zu verstehen, dass diese Haltung in der Bevölkerung mehrheitlich nicht geteilt wird. Wenn also Deutschland vor Urzeiten in der Schweiz gekaufte Gepard-Munition aufgrund des schweizerischen Verbotes nicht an die Ukraine weitergeben darf, ist das absurd. Es zeigt sich, dass im Bundeshaus egoistisches Beharren auf der eigenen Meinung (um parteipolitisch zu punkten) Vorrang hat vor zeitgemässem Engagement für ein überfallenes Land.
Die Schweiz produziert jährlich für rund eine Milliarde Franken Waffen und verkauft sie ins Ausland, zum Beispiel in den Nahen Osten. Dabei drückt sie beide Augen zu, wer, wie und was damit angerichtet wird – eine ziemlich fragwürdige Politik. Doch sie ist ja legal. Ist sie auch glaubwürdig?
Es ist leider nicht das erste Mal, dass die vergangenheitsorientierten Bewahrer im National- und Ständerat punkten: So lehnte der Ständerat die Motion von Thierry Burkart ab, der damit erreichen wollte, dass befreundete Staaten in der Schweiz gekauftes Kriegsmaterial ohne Nachfrage beim Bundesrat weitergeben dürfen. Im Nationalrat strichen die SVP, die Grünen und die FDP den Kern aus einer sozialdemokratisch geprägten Motion, die verlangte, dass die Wiederausfuhr von Waffen aus der Schweiz möglich sein müsste, wenn zwei Drittel der Uno-Generalversammlung einen Angriffskrieg verurteilten. Da wurde unsere Neutralität zur starren Ideologie erklärt.
Dass die SVP-nahe Vereinigung «Pro Schweiz» mit dem Referendum droht, um jede Aufweichung des Kriegsmaterialgesetzes zu verhindern, und gleichzeitig den Bundesrat für seine Haltung lobt, ist nicht überraschend. Auch Herr Blochers Meinung nicht.
Da wirkt das im März 2023 von der GLP vorgelegte Positionspapier, das neue Regeln für die schweizerische Neutralität fordert, wie ein Befreiungsschlag. Die Grünliberalen meinen, dass die Schweiz ihren Partnern in Europa nicht noch Steine in den Weg legen sollte, wenn diese Waffen in die Ukraine liefern wollen. Und sie sind klar der Meinung, dass eine militärische Unterstützung nicht kategorisch ausgeschlossen werden darf, wenn ein Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft völkerrechtswidrig angegriffen wird.
Die Schweiz könnte Leben retten
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat sich beim Treffen mit Bundesrätin Viola Amherd im März 2023 mit einer klaren Botschaft an die Schweiz gewandt. Es ist ihm ein Anliegen, dass der Bundesrat Ausfuhrbewilligungen für Kriegsgerät erteilen sollte. Apropos Neutralität: «Natürlich hat jedes Land das Recht, sich für einen Weg zu entscheiden. Aber das ist genau das, was Putin der Ukraine untersagen will, [...] es geht auch um die Grundprinzipien der europäischen Sicherheit, also das Recht jedes Landes, über seinen Weg zu entscheiden. In der Ukraine werden unschuldige Menschen durch brutale russische Luftangriffe getötet – die Schweiz könnte mithelfen, Leben in der Ukraine zu retten» («Tages-Anzeiger»).
Natürlich hat die Schweiz das Recht, ihren Neutralitätsstatus unabhängig zu definieren. Ebenso kann sie darüber entscheiden, wie sie dem ukrainischen Volk am besten helfen könnte.