Nach dieser angedeuteten Zusage und nachdem Truppen die beiden wichtigsten Proteststädte Deraa und Lattakiya besetzt und isoliert hatten, erklärte die syrische Regierung ihren Rücktritt. Sie war seit 2003 im Amt gewesen. Eine neue Regierung, so wurde mitgeteilt, werde Ende der Woche ernannt werden. Der Staat mobilisierte am Dienstag grosse Demonstrationen für Asad in allen syrischen Städten ausser den beiden von den Truppen besetzten.
An diesen offiziellen Demonstrationen nahmen viel mehr Menschen teil als an den vorausgegangenen Protestdemonstrationen. Allerdings war die Teilnahme auch mit keinerlei Risiken verbunden. Eher war es umgekehrt, die Nichtteilnahme konnte zum Risiko werden. Die Schulen erhielten frei, und die Gewerkschaften sowie die Mitglieder der Baathpartei wurden aufgefordert, sich zu beteiligen. Dann, am Mittwoch Vormittag, hielt der Staatschef eine lang voraus angekündigte Rede.
Nicht der Moment für Reformen
Baschar al-Asad erklärte, die Unruhen seien von ausländischen Interessen provoziert, die Syrien übel wollten. Diese hätten Teile des Volkes verführt. Es handle sich aber nur um vorübergehende Unruhewellen. Reformen seien in der Tat notwendig und würden auch durchgeführt. Er Asad und seine Regierung seien für Reformen. Wer solche wolle, müsse sich nur an ihn wenden. Seit einem Jahr, teilte er mit, werde ein neues Parteiengesetz und die Aufhebung des Notstandes "studiert". Doch gegenwärtig sei nicht der richtige Zeitpunkt um dies zu verwirklichen. Dies aus "logistischen Gründen", wie Asad sagte. Was auch immer Asad mit diesen "logistischen Gründen" gemeint haben mag, klar wurde, dass echte politische Konzession nicht bevorstehen. Höchstens weitere ungewisse Reformversprechen in einer unbestimmt gehaltenen Zukunft.
Wie alle bisherigen Machthaber
Asad verhält sich somit genau gleich wie die anderen arabischen Potentaten, die sich in letzter Zeit mit Protsten konfrontiert sahen. Ben Ali in Tunesien, Husni Mubarak in Ägypten, Ali Saleh in Sanaa, König Hamed in Manama, Ghaddafi in Tripolis haben alle zu Beginn der Protestbewegungen in ihrem Land "fremde Kräfte" für sie verantwortlich erklärt. Sie haben fast alle von Reformplänen gesprochen, ohne echte Reformen durchzuführen. Sie haben auch ihre Regierungen oder einzelne Minister entlassen und neue Regierungen gebildet. Alle versuchten, Gegendemonstrationen ihrer Anhänger auszulösen. Diese Massnahmen haben jedoch nirgends die Proteste zu beruhigen vermocht.
Das Staatsvolk der Alawiten
Doch sollte man daraus nicht die Erwartung ableiten, dass in Syrien nun, so wie in den erwähnten Staaten, die Proteste weiter anwachsen und sich zu echten Massenprotesten im ganzen Lande entwickeln werden. Vielleicht geschieht dies. Oppositionskreise haben für den Freitag weitere Proteste angeregt. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass das Regime die Proteste ersticken kann, bevor sie unüberwindlich werden, ist gross.
Der wichtigste Grund dafür ist, dass in Syrien nicht nur eine Familie herrscht, jene des Präsidenten, sondern mit dieser Familie eine ganze ethnische Minderheit, jene der Alawiten. Die syrischen Alawiten, gegen 20 % der Bevölkerung, sind eine von den meisten Sunniten als heterodox angesehene Religionsgruppe am äussersten Rande des orthodoxen Islams. Als solche wurden sie während Generationen, im Osmanischen Grossreich und später im kolonialen und im unabhängigen Syrien sehr stark diskriminiert. Es gab Gottesgelehrte, die aussagten, einen Alawiten zu töten, sei keine Sünde, im Gegenteil. Und die alawitischen Gemeinschaften lebten in armen Rückzugsgebieten, besonders im felsigen Jebel Alawi, der nach ihnen heisst, und führten dort ein kärgliches Bauernleben.
Von Ausgegrenzten zu Herrschern
Berühmt waren noch in den 60 er Jahren die alawitischen Dienstmädchen in den sunnitischen Bürgerhäusern der Hafenstadt Lattakiya. Einmal im Jahr kam ihr Vater von den Bergen hinab, um den Lohn seiner Tochter zu kassieren. Die Mädchen brauchten kein eigenes Zimmer, nicht einmal ein Bett. Sie konnten unter dem Treppenhaus schlafen. Das Blatt wandte sich plötzlich für die Alawiten, als Hafez al-Asad, zuerst Luftwaffenkommandant, dann Staatschef, 1970 die Macht übernahm und alle seine Rivalen in der Baath Partei entmachtete. Vater Asad hatte darauf zwölf Jahre lang gegen Sunniten zu kämpfen; die Muslimbrüder wollten ihn mit aller Macht absetzen oder ermorden. Er setzte sich finster entschlossen gegen sie zur Wehr und liess Tausende von ihnen umbringen. Seine alawitischen Sondertruppen, die damals unter dem Kommando seines Bruders, Rifaat al-Asad, standen, waren dabei seine verlässlichste Stütze.
Seither hat sich die Macht des Asad Klans zwar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gefestigt. Doch alawitische enge Vertraute sind die beste Machtstütze der Asad-Familie geblieben. Neben den militärischen und Geheimdienstpositionen nahmen sie über die Jahrzehnte hin immer mehr auch wirtschaftliche Schlüsselpositionen ein, zu denen ihnen die Staatsmacht verhalf.
Furcht vor einem Bürgerkrieg
Heute wissen alle Alawiten, dass ihre ganze Gemeinschaft gefährdet ist, wenn es zu einem Machtwechsel käme. Die Aussenwelt hat ihren Aufstieg vergessen. Doch die anderen syrischen Religionsgemeinschaften erinnern sich sehr genau daran. Die anderen Religionsgemeinschaften wissen aber auch, dass die Alawiten ohne einen zähen und höchstwahrscheinlich sehr blutigen Kampf ihre Macht nicht aufgeben werden. Die syrische Oberschichte, zu der neben alawitischen auch sunnitische und christliche Geschäftsleute gehören, sind nicht geneigt, das Risiko eines solchen Krieges auf sich zu nehmen. Lieber nehmen sie hin, dass die Alawiten die besten Stücke des syrischen Kuchens für sich beanspruchen, mindestens solange noch etwas davon für sie übrig bleibt.
Im Bann der Sicherheitsdienste
Die syrischen Mittel- und Unterschichten, die Mehrheit der Bevölkerung, leidet, wie in den anderen arabischen Staaten, an den steigenden Preisen für Lebensmittel, an Arbeitslosigkeit, besonders für die Jüngeren, an Rechtsunsicherheit gegenüber den Willkürakten der Polizei und Sicherheitsleute, an Meinungsbevormundung durch den Staat. Doch bisher ist es nicht zu wirklichen Massenprotesten gekommen. Ausser in Deraa an der Südgrenze und Lattakiya im Nordwesten, wo besondere Umstände herrschen, ist es nicht dazu gekommen, dass grössere Teile der Bevölkerung ihre - nur zu berechtigte - Angst vor den Geheimdiensten verloren hätten. Unter jenen relativ wenigen, die es wagten, zu protestieren, hat die Polizei inzwischen eine grössere Zahl in allen syrischen Städten verhaftet und wird ihnen keine sanfte Behandlung zukommen lassen.
Nur wenn die Sicherheitskräfte sich sehr grobe Verfehlungen zu Schulde kommen lassen, wie dies in Deraa geschah, wo zuerst Kinder gefangen genommen wurden und dann scharf auf Demonstranten geschossen wurde, die sich friedlich gegen diese Massnahme auflehnten, ist es denkbar dass die Regimeschützer selbst genügend Aufruhr und Empörung hervorrufen, um das heutige Gleichgewicht zu Gunsten der Protestierenden zu verschieben.