«Wenn ich gewusst hätte, was so eine Probezeit für die ganze Familie bedeutet, ich hätte ihr die Gymiprüfung glatt untersagt.» Der Vater der dreizehnjährigen, aufge-weckten Annina scheint echt erschüttert. «Ich büffle fast täglich mit ihr Französisch-vokabeln, repetiere lateinische Grammatik, schufte antike Geschichte oder knoble an mathe¬matischen Problemen herum. Und sie zickt und weint abgwechslungsweise. Es ist echt eine Belastungsprobe für die ganze Familie.»
Höchstens einer von etwa 12 Zügen ist abgefahren
Gemach, gemach, möchte man ihm zurufen. Zum einen wird es Annina mit höchster Wahrscheinlichkeit schaffen – das ja akademische Elternhaus ist nahezu ein Garant dafür. Und zum andern wäre bei Misserfolg in der Probezeit objektiv gesehen höchstens einer von etwa zwölf Zügen abgefahren, die auf verschiedenen Strecken schliesslich in den Endbahnhof «Hochschule» einfahren.
Trotzdem stellt sich die Frage: Wären solch andere Wege nicht sinnvoller, sprich der Ent¬wicklungssituation und den Begabungen des Mädchens weit besser ange-passt? «Sie wollte unbedingt. Die vier besten Kolleginnen aus der Klasse gingen ja auch an die Gymi-Prüfung.» Klar: Es ist einer Dreizehnjährigen wahrhaft nicht zu verargen, dass sie mit ihren Freundinnen zusammen bleiben will. Und den Eltern der Freundinnen und auch von Annina nicht, dass sie die gesellschaftlich höchst kotierte Lösung anstreben: Gymnasium nach der 6. Klasse. Dann ist der Mist ein für alle Mal geführt. Dabei gäbe es viele andere Weg, die auch zum Ziel führen – nur kennt man sie viel zu wenig.
Die nächste Chance winkt im Jahrestakt
Auf Grund langjähriger Beratungstätigkeit in diesem Bereich lässt sich festhalten: Die Wege und Möglichkeiten sind in der Tat so komplex und differenziert, dass es fast ausgeschlossen ist, sich einen Überblick zu verschaffen. Vereinfacht gilt: Der Zug «Studium» fährt bis zum 40., eigentlich sogar bis zum 65. Lebensjahr nicht ab. Nicht nach der 6. Klasse, nicht nach der Sekundarschule. Und schon gar nicht nach einer Berufslehre.
Aufnahmeprüfung ins Lang¬gymnasium nicht geschafft? Kein Problem. Die nächsten Chancen winken im Jahrestakt: nach der zweiten Sekundarklasse und wieder nach der dritten Sekundarklasse, sogar noch nach einem 10. Schuljahr. Ihre Tochter braucht eher noch etwas mehr Zeit, bis «der Knopf aufgeht»? Dann empfiehlt sich nach der dritten Sekundarklasse eine Fachmittelschule oder eine Handels¬mittelschule. Danach noch die letzten zwei Jahre an einem Kurzgymnasium – et voilà, die Matur.
Der Sohn ist eher ein Informatikfreak? Wie wär’s mit einer Informatikmittelschule? All diese Schulen führen nach drei Jahren und dem obligatorischen einjährigen Praktikum auch direkt in die Fachhochschulen. Und deren Bachelor an die Uni oder an die ETH. Umweg? Von wegen. Viele Firmen betonen, das seien eben die Leute, die man brauchen könne.
Wie wär’s mit einer Informatik-Mittelschule?
Oder zeigt sich bei Ihrem Jungen schon in der zweiten Sekundarklasse, dass er sehr stark im räumlichen Vorstellungsvermögen oder feinmotorisch begabt ist – und obendrein schulmüde? Dann drängt sich eine Berufslehre geradezu auf, vielleicht mit Berufsmittelschule (BMS) und damit dem direkten Zugang zur Fachhochschule. Der Lehrmeister will ihm den zusätzlichen Schultag pro Woche nicht einräumen? Auch das ist lösbar. Denn die Berufsmittelschule kann man in einem einzigen Jahr nach der Lehre kompakt nachholen. Anschluss siehe oben.
Der Junge will jedoch nach der BMS an die Uni, nicht an eine Fachhochschule? Wieder kein Problem: In zwei oder drei Jahren wahlweise erarbeitet er sich die Erwachsenenmatur an der KME (Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene). Besonders Begabte schaffen es dort nach der BMS sogar in einem Jahr, mit der sogenannten «Passerelle».
Was die Erfahrung zeigt
Sind alle Träume geplatzt, die Jugendzeit von Adoleszenkrisen geprägt, das Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft? Selbst da bleiben die Wege offen, über den freien Weg der eidgenössischen (Fremd-)Matur, über die Erwachsenen¬matur an der KME (s.o., nach drei Jahren geregelter Berufstätigkeit), oder über die individuellen Aufnahmeprüfungen an ETH und Universitäten.
Also bitte keine Panik, liebe Eltern. Die Erfahrung zeigt: Es ist verheissungsvoller, Jugendliche ihre Stärken ausbauen zu lassen, als mit Gewalt ihre Defizite stopfen zu wollen. Denn es sind die je individuellen Stärken und damit verbunden die per-sön¬lichen Erfolgserlebnisse, mit denen wir Menschen das Leben meistern und «unseren Weg machen». Scheinbar abgefahrene Züge hin oder her.
Dr. Jürg Schoch war Sekundarlehrer, Jugendarbeiter, Erziehungswissenschafter. Seit über 20 Jahren ist er Direktor des Gymnasiums und des Instituts Unterstrass (unterstrass.edu).