Das von Israel besetzte Westjordanland – in den Tumulten der Gegenwart fast vergessen? Eine Zeitzeugin erinnert an bald 55 Jahre menschlicher Erniedrigung aus palästinensischer Perspektive.
Wer, wenn nicht Professorin Helga Baumgarten, wäre berufener, die Geschichte der israelischen Besatzung des Westjordanlandes zu dokumentieren. Helga Baumgarten – an den Universitäten Tübingen, New York, London, Beirut und Berlin in Geschichte, Orientalistik und Politikwissenschaften ausgebildet – lehrte von 1993 bis 2020 an der Universität Bir Zeit im Westjordanland das Masterprogramm «Demokratie und Menschenrechte». Sie stand also fast drei Jahrzehnte im Zentrum der militärischen und politischen Entwicklung in den im Sechstagekrieg von 1967 von Israel eroberten palästinensischen Gebieten .
Nicht bereit, aus der Vergangenheit zu lernen?
Da der Autor dieser Zeilen in den Jahren von 1996 bis 2004 als SZ-Korrespondent, dann noch einmal 2012, als Privatmann die palästinensischen Gebiete ausführlich bereist (und die Autorin kennen gelernt) hat, kommt er nicht umhin, das traurige Fazit ihrer historischen Analyse zu bestätigen. Professor Baumgarten schreibt am Ende ihrer stets mit Fakten unterlegten Analyse: «Israel scheint nicht bereit, aus der Vergangenheit zu lernen.» Das Land halte unbeirrt am völkerrechtswidrigen Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten fest, und diese Landnahme sei zwangsläufig mit «ethnischer Säuberung», also mit Vertreibung der einheimischen arabischen Bevölkerung verbunden.
Dieser für die Palästinenser erniedrigende Prozess vollziehe sich «von Jerusalem über die gesamte West Bank, vom Süden rund um Hebron bis in den Norden rund um Nablus und vor allem hinunter ins Jordantal». «Kein Frieden für Palästina» lautet der Titel von Baumgartens Dokumentation. In der Tat. Im arabisch besiedelten Ost-Jerusalem, in Hebron, Nablus und im Jordantal gehe der «Einsatz von Gewalt, sei es durch die Armee oder die Siedler, die immer wieder von der Armee unterstützt werden», unvermindert weiter, schreibt Helga Baumgarten.
Die Prägung des Militanten George Habash
Jedoch, die zu Unrecht so genannte «internationale Staatengemeinschaft» lässt die Palästinenser seit Jahrzehnten im Stich. Der gerade noch amtierende deutsche Aussenminister Heiko Maass, der in die Politik gegangen ist, um, wie er sagt, ein «neues Ausschwitz zu verhindern» – wer wollte das nicht? – verkündet gebetsmühlenhaft, Israel habe das Recht, sich gegen Angriffe zu verteidigen. Sehr wohl. Nur: wo liegen die Ursachen für diese Angriffe, wo liegen die Ursachen palästinensischer Gewalt, die von Israel «Terror» genannt wird?
Ein Beispiel: Professorin Baumgarten zitiert George Habash – später Gründer der PFLP, der «Popular Front for the Liberation of Palestine», geboren im palästinensischen Lydda, heute das israelische Lod, mit folgenden Worten: «Für mich war es das Natürlichste der Welt, in Lydda, in Palästina zu sein. Schliesslich war Lydda meine Heimatstadt, Palästina mein Heimatland. Und dann musste ich erleben, wie die israelische Armee einmarschierte. Sie schoss auf alles, was sich bewegte, einfach so. Am nächsten Tag befahlen sie den Einwohnern Lyddas, die Stadt zu verlassen.» Soweit George Habash.
Wer heute nach Lod, also ins ehemalige Lydda geht, wird von Palästinensern auf eine Lücke in der engen Bebauung hingewiesen. Hier, sagt ein Palästinenser, habe das Haus von George Habash gestanden. Bei den Kämpfen im Jahre 1948 sei hier seine Schwester umgekommen, so stark sei der Beschuss gewesen, dass er die Schwester nicht habe begraben können. Mehrere Tage habe er mit der Toten zusammen im Haus verbringen müssen.
George Habash, ein orthodoxer Christ, wurde durch Krieg und Vertreibung in früher Jugend geprägt. Das Trauma von Gewalt machte ihn zu dem, was man bequemlichkeitshalber heute einen Terroristen nennt. Im Jahr 1970 entführte seine PFLP vier westliche Flugzeuge nach Zarqa in Jordanien. Die Passagiere wurden evakuiert, die Flugzeuge zerstört.
Chronik israelischer Landnahme
Lydda, die verlorene Heimat von Habash, beziehungsweise Lod heute: Israel propagiert hier das Konzept der «Mixed Cities», das Konzept jener Städte also, in denen Israelis und Palästinenser friedlich zusammenleben sollen. Doch das Wort ist, der Augenschein beweist es, eine Täuschung. Im September 2012 schrieb die britische Organisation «Architects and Planners for Justice in Palestine», die arabische Gemeinschaft in Lod habe sich von der Stadtverwaltung mehr und mehr entfremdet, weil diese die Infrastruktur der palästinensischen Stadtteile vernachlässige und kaum noch Baugenehmigungen erteile. (Journal 21 vom 6. Oktober 2012). Die ehemals vollständig arabische Stadt hat heute einen jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa 80 Prozent. Die Stadt ist ein Beispiel für das, was der israelische Historiker Ilan Pappe in einem Buchtitel «Die ethnische Säuberung Palästinas» nennt.
In ihrer Chronik israelischer Landnahme erwähnt Helga Baumgarten auch den palästinensischen Ort Qibya. Von hier aus, wie auch von anderen Orten, die direkt an der Grenze zum neu gegründeten Staat Israel lagen, infiltrierten palästinensische Widerstandskämpfer immer wieder israelisches Territorium – so am 12.Oktober 1953, als Palästinenser im israelischen Grenzdorf Yahud eine Frau mit zwei Kindern töteten. Israel beschloss eine Vergeltungsaktion und suchte das Dorf Qibya als Ziel aus. Unter dem Befehl von Ariel Sharon tötete israelisches Militär am 14.Oktober 1953 70 Zivilisten und zerstörte 45 Häuser.
Der Autor dieser Zeilen hat im Mai 1998 das Dorf Qibya besucht. Denn das von Sharon angerichtete Massaker hatte sich so tief in das Bewusstsein der Bewohner eingegraben, dass einer von ihnen, Scheich Suleyman Mustafa Hassan, heimlich der Hamas beitrat und 1993 – 40 Jahre nach dem Massaker – seinen Peugeot 504 mit Sprengstoff vollpackte, vor die israelische Siedlung Bei El bei Ramallah fuhr und die Sprengladung dort explodieren liess, um möglichst viele Israelis zu töten, wie Einwohner von Qibya sagten. Der Plan misslang insofern, als nur ein Israeli starb – und dazu Scheich Suleyman selber. (Süddeutsche Zeitung vom 13.Mai 1998)
Der Sechstagekrieg von 1967 und die Folgen
Auch Besatzung ist Gewalt – und erzeugt Gegengewalt. Qibya ist – wie auch das Schicksal von George Habash in Lydda/Lod – ein Beispiel für diese fatale Eskalation.
Einen entscheidenden Einschnitt in der palästinensischen Geschichte sieht die Autorin natürlich im Sechstagekrieg von 1967, in dem Israel das gesamte Restpalästina bis zum Jordan und Ost-Jerusalem eroberte. Die Folgen für die Palästinenser? Die Armee habe, schreibt die Autorin, das Leben, den Alltag der Palästinenser seit dem ersten Tag der Besatzung dominiert – etwa, ob man von einem Ort zum anderen gehen dürfe oder ob eine Schule oder eine Universität, die ein Palästinenser besuchen wolle, überhaupt erreichbar sei – denn immer noch wird die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Araber durch zahlreiche israelische, vom Militär kontrollierte Checkpoints eingeschränkt..
Die «Republik Haifa» als Vision
Trotz dieser Behinderungen hätten Palästinenser, hätte Yassir Arafats Fatah-Bewegung in dieser Zeit die Vision eines gemeinsamen Staates entwickelt, in welchem alle im Lande vertretenen Religionsgruppen gleichberechtigt leben sollten. «Heute hat das arabische Volk von Palästina beschlossen, sein Schicksal in seine eigene Hand zu nehmen», verkündeten Palästinenser Ende der 1960er Jahre. Die Idee scheiterte wie so viele andere, aber gestorben ist sie nicht. Kürzlich regte der israelische Philosoph Omri Boehm (Journal21 vom 12.07.20) eine «Republik Haifa» an, in der Juden und Araber friedlich zusammenleben sollen. Warum Haifa?
Haifa biete, schreibt der Autor, ein schönes Modell. Hier arbeiteten jüdische und palästinensische Ärzte in den oft besten Krankenhäusern des Landes zusammen, um die stark gemischte Bevölkerung des Nordens zu betreuen. In Haifa gäbe es mit Al-Midan ein arabisch-jüdisches Theater. Im jüdischen Teil der Stadt gebe es auf der Massada-Strasse viele arabische Cafés, mithin das «wahre Potential einer kosmopolitischen, statt einer jüdischen Stadt», wo Araber und Juden «wie selbstverständlich die Liebe, das Leben, das Gespräch miteinander» teilten. Schliesslich sei der Hafen Haifas jener Ort, an dem die Überlebenden des Holocaust angekommen seien – und wo wenig später, im ersten arabisch-israelischen Krieg, Tausende von Palästinensern «in Scharen zum Hafen flüchteten und die Stadt auf Schiffen verliessen». Doch die Wirklichkeit sieht bis heute anders aus.
Natürlich erörtert die Autorin die versuchte Machtübernahme Arafats in Jordanien im Jahre 1970, die Vertreibung der militanten Fatah durch König Hussein in der als «Schwarzer September» in die Geschichte eingegangenen blutigen Auseinandersetzung.
Die Autorin schildert die Entwicklung in den besetzten Gebieten, die Ursachen der ersten und zweiten Intifada, den Sieg der Hamas bei den vom Westen geforderten Parlamentswahlen im Jahr 2005 – und die Missachtung dieses demokratischen Aktes durch eben diesen Westen, dem das Wahlergebnis nicht gefallen hat. Alles Informationen, die ins Gedächtnis zu rufen entscheidend sind, will man die verfahrene Situation und die Reaktion der Palästinenser verstehen.
Nicht nur ein edler Befreiungskampf
Helga Baumgarten schildert diese fatalen Entwicklungen aus palästinensischer Perspektive – verständlich und wichtig angesichts der Tatsache, dass viele Medien in Deutschland den Konflikt meistens vorwiegend aus israelischer Sicht darstellen. Erwähnt werden sollte aber auch das Leid jener israelischen Zivilisten, die bei palästinensischen Selbstmordattentaten ums Leben kamen oder bei Raketenangriffen verletzt wurden. Und dass Arafats PLO nicht nur den edlen Befreiungskampf geführt hat, ist nicht nur bei seinem Versuch der Machtübernahme in König Husseins Jordanien zu dokumentieren, sondern auch im Südlibanon, wohin sich die PLO nach ihrer Niederlage in Jordanien geflüchtet hat. Dort herrschten die PLO-Milizen wie Besatzungsmächte, und als schliesslich die israelische Armee 1982 in den Südlibanon einrückte, um die PLO zu vertreiben, wurden manche israelischen Soldaten von den Schiiten des Südlibanon mit Blumen empfangen – so sehr hatten sie unter der Herrschaft des typisch arabischen Autokraten Arafats gelitten.
Dennoch: Helga Baumgartens Chronik der israelischen Herrschaft über die Palästinenser gehört in die Hand und in den Kopf eines jeden Politikers, eines jeden Journalisten, eines jeden Lehrers, der sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigt. Gewiss ist das Buch eine Abrechnung mit der israelischen Besatzungspolitik. Aber ebenso sicher ist hier keine Antisemitin am Werk. Eine wissenschaftlich fundierte Darstellung bleibt, was sie ist, nämlich Wissenschaft. Eine solche Feststellung muss man heute – leider – immer gleich hinzufügen, wenn man Israels fortdauernde Landnahme analysiert.
Helga Baumgarten: Kein Frieden für Palästina. Der lange Krieg gegen Gaza. Besatzung und Widerstand. 191 S. Promedia Verlag Wien 2021.