Es weihnachtet. Das lässt sich weder übersehen, noch überhören. Und zwar nicht nur wegen der vielen Weihnachtsmärkte auf den Strassen und Plätzen. Nein, unsere Politiker (für unsere politisch-korrekte Leserschaft: die Weiblichkeitsform «-innen» ist gedanklich natürlich immer inbegriffen) haben ja wissen lassen, uns – das Volk – bereits vor dem Fest mit einer besonderen Zuwendung beglücken zu wollen. Mit einer neuen Regierung.
Nun sind natürlich nicht alle deutschen Volksvertreter in dieser Geberlaune. Ein paar wenige maulen auch, weil wir (also der «eigentliche Souverän») ihnen (genauer: ihren Parteien) zu wenig Zuneigung und damit Stimmen entgegengebracht haben, so dass sie nun vermutlich vier Jahre lang auf den traditionell ungeliebten, weil angeblich harten, Stühlen der Opposition im Berliner Reichstagsgebäude verharren müssen.
Wenn die Not gross ist
Das ist nicht zuletzt deshalb fast tragisch, weil ja mit den Christ- und den Sozialdemokraten jetzt ausgerechnet die beiden Polit-Heere gemeinsam marschieren werden, die zuvor am erbittertsten aufeinander eingedroschen und jedem Gedanken an eine etwaige Verbrüderung so viel Sympathie gespendet hatten wie der Teufel dem Weihwasser. Nun also Grosse Koalition. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch. So etwas, hiess es in der ausgehenden Frühzeit der damals noch «Bonner Republik», sei natürlich theoretisch denkbar, dürfe aber nur die ganz seltene Ausnahme sein, wenn nämlich die Not im Staate gross sei.
Im Herbst 1966 war es zum ersten Mal so weit. Ludwig Erhard, noch bis kurz vorher als Schöpfer des deutschen «Wirtschaftswunders» bejubelt, hatte nicht nur im Volk, sondern vor allem in seiner Partei (CDU/CSU) und beim freidemokratischen Koalitionspartner das Vertrauen verloren; die FDP ging von der Fahne. Das Wort «Krise» machte die Runde.
Doch wie gross war die Not seinerzeit wirklich? Wirtschaftswachstum: 2,8 Prozent. Arbeitslosigkeit: 0,7 Prozent (300’000). Inflationsrate: 3,7 Prozent. Heute würde jede Regierung bei solchen Zahlen jubeln! Tatsächlich aber war diese erste schwarz-rote Koalition schon über einen längeren Zeitraum von massgeblichen Politikern beider Lager insgeheim vorbereitet worden. Wem sagen die Namen Paul Lücke und Fritz Erler noch etwas?
Nicht zuletzt für den einstigen «Zuchtmeister» der SPD, Herbert Wehner, galt dieses Bündnis als einzig denkbare «Brücke», um selber an die Regierung zu kommen. Und die «Sozis» hatten damals prima Leute – Willy Brandt, Helmut Schmidt, Karl Schiller, Alex Möller, Georg Leber… Mehr noch: Die Sozialdemokraten konnten aus einer Position der Stärke heraus das Regierungsprogramm diktieren, obwohl sie nicht den Kanzler stellten. Dieser (Kurt Georg Kiesinger) musste auf SPD-Geheiss sogar seine Regierungserklärung mit dem Satz beginnen: «Der Bildung dieser Regierung ging eine lange, schwere Krise voraus…» Im Übrigen hatte Herbert Wehner recht. Drei Jahre später stellte die Partei mit Brandt den Regierungschef.
Ein schwerer Nackenschlag
Geschichte wiederholt sich freilich nur selten. 2005 endete vorzeitig die rot-grüne Ära Gerhard Schröder/Joschka Fischer. Wieder folgte eine Grosse Koalition; diesmal unter Angela Merkels und der CDU/CDSU Stabführung. Und sie endete für die SPD mit einem Fiasko. Trotz herausragender Regierungsmitarbeit, vor allem bei der Bewältigung der seinerzeitigen Bankenkrise, stürzte sie ab auf rund 20 Prozent – ein schwerer Nackenschlag.
Was heisst Nackenschlag? Seither leidet die SPD unter einem wahren Merkel-Trauma, das sich durch die krachende Niederlage am 22. September natürlich noch weiter verfestigte und die heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen erklärt. Dabei hätten die Genossen bei der Lektüre des so genannten Koalitionsvertrages eigentlich allen Grund, sich wahlweise verblüfft die Augen zu reiben oder vergnügt auf die Schultern zu klopfen. Liest der sich doch streckenweise, als habe bei der Wahl am 22. September die SPD 42 und die Union 25 Prozent Stimmen bekommen.
SPD-Chef Siegmar Gabriel kann daher bei seiner Werbetour um die Zustimmung der Parteimitglieder mit Recht behaupten, das 185-Seiten-Papier trage die «sozialdemokratische Handschrift». Rächt es sich jetzt, dass die Union einen Wahlkampf ohne Inhalt und Gestaltungswillen geführt hat? Ja, sie hat «keine Steuererhöhungen» versprochen und das auch erreicht. Aber sonst ist alles Wesentliche sozialdemokratisch – vom flächendeckenden Mindestlohn bis zur teilweisen Rücknahme der Schröder´schen Rente mit 67.
Roland Tichy, Chefredakteur der «WirtschaftsWoche», hat dafür ein ebenso schönes wie treffendes Sprachbild gefunden: Die Union sei in den Verhandlungen der willfährige Partner einer SPD gewesen, «die sich als gesamtgesellschaftlicher Betriebsrat versteht, der den Veggie Day in der Kantine als Beitrag zum Weltklima feiert». Aber vielleicht bastelt die Union ja bereits an dem bahnbrechenden Wahlslogan für 2017: «CDU, um Schlimmeres zu verhindern!»
Wer soll das bezahlen?
Wenn die alte These von der Grossen Koalition als Notlösung wenigstens noch ein klein wenig zutreffen sollte, dann müsste sie doch eigentlich mit der Entschlossenheit der Akteure verbunden werden, vor allem die grossen aktuellen oder zu erwartenden Probleme anzugehen – zügiger Abbau der Staatsschulden, wie geht es weiter mit der gemeinsamen Währung und der Gestaltung Europas im weiteren Sinne, wie geht man die Energiewende technisch und wirtschaftlich endlich vernünftig an, wie soll die Altersvorsorge angesichts der sich dramatisch verändernden Alters-«Pyramide» gestaltet werden, und, und, und… Stattdessen entsteht der Eindruck, dass in den fast zweimonatigen Tag- und Nachtsitzungen die schwarzen und roten Protagonisten vor allem versuchten, sich mit immer mehr Wünschbarem zu übertreffen. Frei nach dem Motto: «Darf es auch noch etwas mehr sein?»
Wer mag denn im Ernst den Müttern und älteren Arbeitnehmern nicht ein Höchstmass an Rente gönnen? Aber darf den Koalitionären wirklich erlaubt werden, zur Finanzierung der 63-Jahre-Wohltat die momentan gerade mal gut gefüllten Rentenversicherungs-Kassen zu plündern? Jeder weiss doch, dass dies zu Lasten der nächsten (immer kleiner werdenden) Generationen gehen muss. Das ist schlicht verantwortungslos! Und vor diesem Hintergrund klingt die papierne Verabredung geradezu zynisch, dass künftige Gesetze einem «Demographie-Check» unterworfen werden sollen. Wenn denn wenigstens Sparer und Anleger beruhigt auf ihre private Vorsorge blicken könnten! Aber nein, die Niedrigzinspolitik frisst die ja auch noch auf.
Ernst oder Kabarett?
Gewiss viele Beobachter haben sich während der zurückliegenden grosskoalitionären Verhandlungsrunden manchmal gefragt, was denn eigentlich das zwischendurch immer mal aufgebotene Fussvolk soll. Schliesslich waren ja zeitweise über 70 (!) Leute dabei. Möglicherweise ist dies die Lösung; dafür müsste man aber einmal in das Kompromisspapier gucken.
Könnte es nicht sein, dass in diesem grossen Kreis jene Ideen geboren wurden, die auch noch als zusätzlich wünschbare Ziele in den Katalog Eingang fanden und uns allen nun als Geschenk der Grossen Koalition das Weihnachtsfest noch mehr verschönern und den Blick in die Zukunft besonders optimistisch färben sollen: Förderung der Erforschung der Frauenbewegung in der DDR, Verbot von Walfleisch in Deutschland, Barrierefreiheit auf Bahnhöfen, Warnhinweise beim Dispokredit und mehr Platz für Hunde, Katzen und Vögel im Tierheim.
Haben wir uns das nicht alle schon lange in einem Regierungsprogramm gewünscht? Oder spielt sich am Ende hier Politik zwischen Ernsthaftigkeit, Kabarett und Veralberung ab? Wer davon immer noch nicht genug haben sollte: Der Koalitionsvertrag kann kostenlos von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Berlin abgerufen werden und wäre, mit einem schmucken Bändchen versehen, gewiss noch ein hübsches Weihnachtsgeschenk.