Mehr als 220.000 Tote, 840.000 Verwundete, ganze Städte in Ruinen, vier Millionen Menschen ins Ausland geflohen und 7,6 Millionen (etwa die Einwohnerzahl der Schweiz) im eigenen Land auf der Flucht – das ist die vorläufige Bilanz von vier Jahren Krieg in Syrien. Es gibt keinen Lösungsansatz. Die für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zuständigen Vetomächte der Vereinten Nationen verwalten die Syrienkrise nur noch.
„Die Zukunft einer ganzen Generation und die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft stehen auf dem Spiel“ stellen jetzt die Chefs von acht Hilfswerken der Uno in einem gemeinsamen Appell fest. Sie fordern die Spitzenpolitiker auf, ihre Meinungsverschiedenheiten beiseite zu legen und den „brutalen Konflikt“ in Syrien zu beenden.
Abgestumpfte Weltöffentlichkeit
Die Weltöffentlichkeit hat den Krieg in Syrien, der im März in sein fünftes Jahr eingetreten ist, zwar noch nicht vergessen, wirkt aber zunehmend abgestumpft. Zwei internationale Syrienkonferenzen in Genf verliefen ergebnislos. Die Uno-Vermittler Kofi Annan und Lakhdar Brahimi gaben auf. Im Sicherheitsrat scheiterten vier Resolutionsentwürfe am Veto Russlands und Chinas. 2013 konnten die Hilfskonvois der Uno noch 2,9 Millionen Syrer mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen. 2014 hatten sie nur mehr Zugang zu 1,2 Millionen.
Sowohl die syrische Regierung wie ihre Gegner errichteten eiserne Vorhänge. Der Weltsicherheitsrat hatte – ausnahmsweise einstimmig – vergangenes Jahr den Hilfswerken das Recht zugesprochen, auch ohne Erlaubnis des Regimes in Damaskus Waren über die Grenzen nach Syrien zu bringen und an die Not leidenden Menschen zu verteilen, deren Zahl auf 12,2 Millionen geschätzt wird. Die über die Türkei, den Libanon und Jordanien transportierten Hilfsgüter bleiben aber häufig an den fliessenden Frontlinien der Kriegsparteien stecken oder werden von lokalen Machthabern zweckentfremdet. So füllte der „Islamische Staat“ vom Welternährungsprogramm (WFP) der Uno gelieferte Grundnahrungsmittel in Säcke mit seinem eigenen Logo um und verteilte sie als „Geschenke“ der Gotteskrieger an die Bevölkerung.
Streit unter humanitären Organisationen
Mitte März appellierten die Leiter von acht Uno-Hilfswerken an die Führer der Welt, ihre Meinungsverschiedenheiten zu begraben und gemeinsam auf eine Lösung des Syrienkonflikts hinzuarbeiten. „Die Zukunft einer ganzen Generation und die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft stehen auf dem Spiel“, heisst es in dem Aufruf.
Doch die humanitären Organisationen stehen untereinander selber im Streit. Sie werfen sich gegenseitig eine Mitschuld am Scheitern vor. 21 Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) haben kürzlich in einem Bericht mit dem Titel „Failing Syria“ nicht nur die Untätigkeit des Weltsicherheitsrats scharf kritisiert, sondern auch die bürokratische Schwerfälligkeit der Uno-Hilfswerke angeprangert. Zum Beweis ihrer höheren Effizienz legten sie folgende Zahlen vor: Seit August 2014 haben 1130 Lastwagen der Uno mit Hilfsgütern die syrische Grenze von Jordanien und der Türkei aus überquert. Während des gleichen Zeitraums gelangten allein aus der Türkei 2751 von NGO gemietete Lastwagen nach Syrien.
Unmöglich hilfsbedürftige Menschen zu erreichen
Die Uno weist diese Rüge entschieden zurück. Am Genfer Sitz des Koordinierungsbüros der Vereinten Nationen für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) weist man darauf hin, dass es wegen des Kriegsverlaufs zunehmend schwierig bis unmöglich wird, die hilfsbedürftigen Menschen in Syrien zu erreichen. 2013 lebten 2,5 Millionen Syrer in unzugänglichen Kampfzonen. Bis Anfang 2015 stieg ihre Zahl auf 4,8 Millionen an.
In den vom „Islamischen Staat“ kontrollierten Gebieten ist jede humanitäre Hilfe unmöglich geworden. Das erlebt auch das neutrale Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Die NGO „Ärzte ohne Grenzen“ hat sich nach der Entführung von fünf Mitarbeitern zurückgezogen. „Der Islamische Staat hält keine schriftliche oder mündliche Zusage ein“, stellt der Präsident des angesehenen Hilfswerks, Mego Terzian, fest.
Gewöhnungseffekt
Zu dem ganzen Schlamassel gesellt sich das Versiegen der Geldquellen. Die Syrienhilfe der Uno ist unterfinanziert, weil die Mitgliedsstaaten immer knauseriger werden. Die Nicht-Regierungs-Organisationen sind hauptsächlich auf private Spenden angewiesen, die auch immer spärlicher fliessen. Je länger der Krieg in Syrien dauert, umso stärker wird der Gewöhnungseffekt. Diese Umstände erklären, warum die Hilfswerke in einen ungesunden Wettstreit schlittern.