Der israelische Premier Netanjahu versucht unterdessen, die Zustimmung seines Kabinetts zu einer befristeten Verlängerung des Moratoriums zu erkaufen: Als Gegenleistung will er auf die Forderung einschwenken, den arabischen Staatsbürgern ein Loyalitätsbekenntnis zugunsten des „jüdischen und demokratischen Charakters des Staates Israel“ aufzuerlegen. Mehr noch: Vor der Uno-Vollversammlung hat Avigdor Lieberman für die Ausgliederung der arabischen Bevölkerung Israels aus dem Kleinen Dreieck und Wadi Ara in Nordisrael plädiert, woraufhin einer ihrer Repräsentanten empfahl, aus dem Angriff auf die Staatsräson um der Ehrlichkeit willen das Adjektiv „demokratisch“ zu streichen. Niemand wisse überdies genau, was ein jüdischer Staat sei, kommentierte der Politologe Shlomo Avineri lakonisch.
Die Siedler mit ihrer Mobilisierungskompetenz zweifeln nicht daran, dass sie dem Abbruch der Bautätigkeit in allen Teilen der Westbank – und natürlich in Ost-Jerusalem – einen Riegel vorschieben können. Dafür hat ihr Marsch durch die Institutionen der Ministerialbürokratie, des Militärs, des Parlaments und durch Organisationen der Zivilgesellschaft gesorgt. Vor kurzem machte die Meldung aus der Wochenzeitung der Armee die Runde, dass dreizehn Prozent der aktiven Kommandeure aus den Siedlungen kommen; die Zahl der Yeshiva-Abgänger im Offizierskorps steigt. Da der Siedler-Rat einen Querschnitt der israelischen Bevölkerung verkörpert, steuert die Arbeitspartei in die Bedeutungslosigkeit, und „Kadima“ verhält sich wie eine überflüssige Verlängerung des „Likud“. Die permanenten Hinweise auf Meinungsumfragen, es gebe in der israelischen Bevölkerung eine deutliche Mehrheit für die Zweistaatenregelung, gehören zur politischen Makulatur. Von der übergreifenden Friedensbewegung sind einzelne Vereinigungen übriggeblieben wie „Machsom Watch“, die Soldatenorganisation „Das Schweigen brechen“, „Anarchisten gegen die Mauer“, das „Israeli Committee against Hourse Demolition“ sowie Gruppen, die in den Jerusalemer Stadtteilen Silwan und Sheikh Jarrach gegen die Enteignung palästinensischer Bewohner protestieren.
Netanjahu beunruhigt allein die Sorge, dass sich die amerikanischen Juden von seiner Politik abwenden und dass Stimmen Gehör finden könnten, die in der Organisation „J-Street“ und ihren lokalen Dependancen eine neue Heimat suchen. Immerhin hat sie in den vergangenen zweieinhalb Jahren von mehr als zehntausend Spendern insgesamt 11,2 Millionen Dollar erhalten, allein von George Soros 750 000 Dollar. Robert Wexler, Präsident des „S. Daniel Abraham Center for Middle East Peace“, rühmte nach einem Treffen seiner Stiftung mit Machmud Abbas im Frühsommer, dass beide Seiten die „einzigartige Gelegenheit zu einem wahrhaftigen, offenen Dialog“ nutzten. Solche jüdisch-palästinensischen Begegnungen sollten auch in Europa Schule machen. Denn die öffentliche Resonanz auf das Sarrazin-Buch in Deutschland belegt, dass Islamophobie und Antisemitismus Geschwister im Geiste krimineller Gesinnung sind.
Die Geister, die er rief
Als Netanyahu in seiner ersten Amtszeit Anfang Oktober 1996 in Washington mit König Hussein zusammentraf, um Irritationen wegen der Öffnung des Tunnels nahe der Al-Aqza-Moschee auszuräumen, verabschiedete er ihn mit der Zusicherung „Ich bin entschlossen, Sie zu überraschen.“ Dagegen machte Bill Clinton in denselben Tagen, so berichtet der in London lehrende Historiker Avi Shlaim in seiner Hussein-Biographie „Lion of Jordan“, empörende Erfahrungen mit seinem israelischen Gast. Seither treten bei Netanjahu keine politischen Überraschungselemente zutage, obwohl der Druck aus der US-Administration ihn nach außen hin Distanz zur Siedlerbewegung aufnötigt. Die Zusage des Premiers an die Adresse von Machmud Abbas, er sei sein „Partner für den Frieden“, lässt sich als ein Akt der Wertschätzung des realpolitisch geringen Gewichts in Ramallah verstehen. Dass es alle Regierungen nach 1973 hingenommen haben, sich ihren Handlungsprimat durch ausländische Privatinvestitionen in den Siedlungsbau aus der Hand winden zu lassen, rächt sich spätestens jetzt.
Obamas Administration hat sich nach allen Regeln der diplomatischen Kunst verschätzt. Seiner Forderung, wonach die Regierenden in Jerusalem und Ramallah innerhalb von zwölf Monaten ein Rahmenabkommen für die zentralen Konfliktfelder vorzulegen hätten, bleibt die Bewährungsprobe erspart. Der massive Erfolgsdruck, unter den sich der Präsident setzte, dürfte unter seinen Gegnern jenes höhnische Gelächter auslösen, dem alle Chefs im Weißen Haus regelmäßig ausgesetzt waren. War es die Verdrängung der Erfahrungen Bill Clintons, der in Camp David zwischen den Parteien zerrieben wurde und an dem seine Mitarbeiter am Ende verzweifelten, weil ihm jene „leadership“ abhanden gekommen war, auf die er sich so viel zugute hielt?
Übel und Ohnmacht
Unter den Palästinensern fällt Arafats Hinterlassenschaft nach wie vor erschreckend ins Auge. Vor allem ihm und seinen Trabanten ist die Zerrüttung des palästinensischen Politikbetriebs zuzuschreiben. Nach seiner Rückkehr aus dem tunesischen Exil im Frühsommer 1994 entmachtete er die gesamte politische Führung mit Haidr Abd’ al-Shafi, Hanan Ashrawi, Faisal Husseini, Mustafa Barghouti und Sari Nusseibeh an der Spitze, welche bis dahin die Last des Widerstandes getragen hatten. Von diesem Erbe der Destruktion haben sich Abbas und sein Premier Salam Fayyad nicht erholt, und ihm ist es zuzuschreiben, dass „Fatah“ als die größte PLO-Fraktion bei den Parlamentswahlen 2006 gegen „Hamas“ kläglich verlor, weil es sich der „Ra’ees“ angelegen sein ließ, die Entwicklung institutioneller Strukturen mit politischer Verantwortung vom Parlament – dem „Palestinian Legislative Council“ – abwärts bis in die lokalen Gliederungen seiner Partei zu ruinieren, Konkurrenzen freien Lauf ließ und das von ihm endlich 2002 unterschriebene Grundgesetz nach Belieben missachtete.
Die schädliche Politik des Westens
Auch wenn sie humanitäre Katastrophen verhindert konnten, haben die vielfältigen Infrastrukturhilfen aus Europa, aus den USA und aus Japan die im System Arafat angelegten Schwächen nicht vollständig wettmachen können und überdies den politischen Prozess mit Israel gründlich beschädigt. Wie es gelingen soll, bis zum Sommer 2011 die Vorbereitungen zur Gründung des Staates Palästina abzuschließen, steht in den Sternen – und damit eigene Hoffnungen, dass die Welt auch aus Verdruss über die israelische Regierung ihm zu internationaler Anerkennung und Reputation verhelfen werde.
Wie sehr die Autorität der Autonomiebehörde im Innern angegriffen ist, belegt schon der kontinuierliche Verstoß von Arbeitskräften gegen Fayyads Anordnung, ihr Geld nicht in den jüdischen Siedlungen zu verdienen. Drohungen mit der Todesstrafe werden Mittelsmänner nicht davon abhalten, im Falle attraktiver Angebote Grundstücke an israelische Interessen zu verkaufen. Sollte die Kraft zu einer dritten „Intifada“ reichen, dürfte sie sich wie schon im Herbst 2000, als die „Junge Garde“ um Marwan Barghouti das alte Regime herausforderte, auch gegen die Regierenden richten. Im Gazastreifen mehren sich die Anzeichen, dass „Hamas“ ihre Methoden der Einschüchterung und der Repression überdehnt hat.
Die eigenen Interessen der arabischen Staaten
Die Arabische Friedensinitiative von 2002 ist ein Prinzipienkatalog ohne nennenswerte weitere Aktivität geblieben. Zwar warnt der jordanische König Abdullah II. in wöchentlichem Abstand vor einer Zuspitzung der Lage an seiner Westgrenze, aber außenpolitisch steht die nationale Unabhängigkeit besonders gegenüber Syrien im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, und nach dem abgrundtiefen Argwohn seines Vaters gegenüber Arafat wird er als Nachkomme des Propheten gegenüber den Amtsnachfolgern des „Ra’ees“ wenig Veranlassung sehen, ihnen unter Verweis auf den Friedensvertrag mit Israel die religionsgebundenen Vorrechte in Ost-Jerusalem zu überlassen. Syrien kann sich mit dem Iran und der libanesischen „Hisbollah“ im Rücken das Zuwarten leisten. Hosni Mubarak ist nachhaltig mit innenpolitischen Verwerfungen belastet, so dass an eine mehr als moderierende Rolle im israelisch-palästinensischen Streit kaum zu denken ist. Saudi-Arabien, das aus Gründen der theologischen Rivalität „Hamas“ misstraut, hat 2009 entgegen den Zusagen in Höhe von 241 Millionen Dollar nur fünfzig Millionen überwiesen, während die Arabischen Emirate in diesem Jahr keine einzige Zahlung angeordnet haben sollen.
Obama ist anderweitig beschäftigt
Was die USA abgeht, ist das Scheitern Obamas kein Ausdruck einer vorübergehenden Schwächeperiode. Neben Afghanistan und Irak ist Washington mit aller Kraft durch die Abwehr des außenhandelspolitischen Überfliegers China und der Unterbewertung seiner Währung, des Renminbi, beschäftigt. Eine anhaltende Schwäche des Dollars könnte in weltweit verheerende Folgen für nationale Zahlungsbilanzen einmünden. Die Ergebnisse der „midterm elections“ zum Kongress im November werden keinen neuen Energieschub im Nahen Osten einleiten. Schon jetzt hat die Administration der israelischen Regierung mit materiellen „Anreizen“ entgegenkommen wollen, damit diese das Baumoratorium verlängert.
Doch ausgerechnet in dieser Phase der nationalen Verunsicherung ist eine Diskussion „Worauf gründen die Beziehungen zu Israel?“ mit Anthony H. Cordesman an der Spitze hereingeplatzt. In Anerkennung der moralischen und ethischen Motive der Bindungen an Israel schrieb der Direktor des „Center for Strategic and International Studies“ seiner Administration ins Stammbuch, dass sie damit keineswegs die Siedlungspolitik, die demographische Judaisierung Jerusalems sowie den Libanon-Krieg 2006 und den Gaza-Krieg (2008/09) rechtfertigen oder entschuldigen dürfe. Die Treuepflicht könne nicht bedeuten, dass die USA eine Regierung unterstützen, wenn diese nachweislich bei der Suche nach dem Frieden mit ihren Nachbarn versage. „Die Vereinigten Staaten brauchen keine unnötigen Probleme in einem der gefährlichsten Teile der Welt, besonders wenn israelische Aktionen eine Form annehmen, die Israels eigenen strategischen Interessen nicht dienen“, schloss Cordesman seine Philippika ab. Prompt wurde sie von britischen Juden durch die Aufforderung an Oppositionsführer Ed Miliband ergänzt, das Verhältnis zu Israel auf der Basis von Grundwerten und nicht allein auf beglaubigten Allianzen fortzuentwickeln.
Europäische Einzelaktionen statt koordinierter Politik
Angesichts der von Cordesman ausgehenden Tonlage nehmen sich gesamteuropäische Resonanzen auf das jüngste Scheitern der eigenen Diplomatie höchst karg aus. Trotz mehrfacher Empfehlungen waren die Außenämter offenkundig schlecht darauf vorbereitet, dass nach dem 26. September der Siedlungsbau seine Fortsetzung finden könnte. Die Anregung der EU-Außenministerin Catherine Ashton, die Erweiterung der Beziehungen zu Israel mit erkennbaren Fortschritten im Friedensprozess zu verknüpfen, ist vom Gemeingut weit entfernt. Deshalb haben sich manche Hauptstädte zu Einzelaktionen entschlossen: Norwegen untersagt in seinen Hoheitsgewässern der Bundesrepublik Probefahrten jener U-Boote, die für Israel bestimmt sind, während Spanien und Großbritannien der israelischen Einladung zur Tourismus-Konferenz nicht Folge leisten wollten, da nicht sichergestellt sei, dass die Delegierten vor einem unerwünschten Besuch Ost-Jerusalems verschont bleiben. Dass der UEFA-Präsident Michel Platini damit gedroht hat, Israel aus dem Verband auszuschließen, wenn es palästinensischen Spielern aus „Sicherheitsgründen“ die Bewegungsfreiheit einschränke, und dass sich der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Jacques Rogge dagegen verwahrt, dass Israel palästinensischen Athleten mit derselben Begründung die Teilnahme bei Wettbewerben verwehre, läuft auf eine schleichende Entmündigung der europäischen Nahostpolitik hinaus. Gleichsam kompensatorisch treten Nichtregierungsorganisationen in die Verantwortung der Regierungen.
Wenn sich die klassische Idee zweier Nationalstaaten tatsächlich erledigt hat, dürfte sich aus der Synthese von politischer Souveränität und universalen Menschenrechten die Formel anbieten, dass der Staat Israel der Staat des jüdischen Volkes und aller seiner Bürger sowie der Staat Palästina der Staat des palästinensischen Volkes und aller seiner Bürger sein müssen. Ungeachtet brisanter Entschädigungsregelungen für verlorenen und enteigneten Besitz würden die Siedler als loyale Bürger in Palästina bleiben so wie die arabischen Bürger in Israel. Beiden stünde schon aus Gründen der kulturellen Identität die Option einer Doppelstaatsbürgerschaft offen.
Jerusalem als Modellfall für die Zukunft der Region
Der Modellfall ist und bleibt Jerusalem. Hier entscheidet sich, ob die Theorie von einer „säuberlichen“ Trennung von jüdischen Israelis und arabischen Palästinensern lediglich auf einer Behauptung beruht: dass nämlich die Angehörigen beider Völker niemals friedlichen Nachbarn seien. Die geglückte Kohabitation hingegen würde der Idee zu der Einsicht verhelfen, dass Juden und Araber in Eretz Israel / Falastin deshalb leben, weil sie dort leben. Damit hätte die List der Geschichte für die Entdogmatisierung des Jahrhundertkonflikts gesorgt und Zeitfenster für neue Entwicklungen geöffnet.