Ich muss vorausschicken: Ich bin seit Jahren in meinem Anwaltsberuf als Strafverteidiger tätig, weshalb mein Herzblut auf der Seite der Verteidigung fliesst. Ein Strafverteidiger ist allerdings nicht zur Objektivität verpflichtet, er plädiert nicht so, wie er als Richter entschieden hätte, sondern muss alles vorbringen, was zu Gunsten seines Mandanten spricht, sei es, um einen Freispruch zu erwirken, sei es um eine möglichst milde Bestrafung herbeizuführen. Vor allem bei Gewaltdelikten kann ein Verteidiger selten mit dem Goodwill des Publikums rechnen, das erleben wir Sonntag für Sonntag bei „Tatort“-Krimis, wo die Verteidigung oft in Komplizenschaft mit dem Täter oder der Täterin dargestellt wird. Für mich kann es hier nur darum gehen, aufzuzeigen, wie ich als Richter entschieden hätte.
Dilemma zwischen zwei Übeln
Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“ wurde am Montag zum Fernsehevent in der ARD, im ORF und bei SRF. Vorgängig bereits haben schon Tausende das dem Film zugrunde liegende Stück im Theater gesehen. Das zu klärende Dilemma war Gegenstand unzähliger Artikel in unzähligen deutschsprachigen Medien. Eine ausführliche Sachverhaltsbeschreibung erscheint deshalb nicht als notwendig.
Im Kern geht es um ein vordergründig einfaches Dilemma. Ein Lufthansa-Flugzeug mit 164 Personen an Bord wird durch IS-Terroristen entführt und steuert auf die vollbesetzte Münchner Allianz-Arena zu. Ein Major und Jagdflieger der Bundeswehr schiesst trotz gegenteiligen Befehls der Verteidigungsministerin das Flugzeug ab. Er gesteht die Tat unumwunden, beruft sich aber auf einen übergesetzlichen Notstand. Die Verteidigungsministerin ihrerseits verweist bei ihrem Nein zum Abschuss auf das 2006 ergangene Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes, das ein damals im Vorjahr vom deutschen Bundestag beschlossenes Gesetz aufhob, das im vorliegenden Fall den Abschluss erlaubt hätte. Ein als Waffe verwendetes Flugzeug darf nicht abgeschossen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat ergänzend gewissermassen in einem späteren Urteil einen Abschuss bejaht für den Fall, dass sich nur ein oder mehrere Täter, aber keine Drittpersonen, im Flugzeug befänden.
Der Kampfpilot argumentiert utilitaristisch. Das Verhältnis zwischen 70'000 und 164 Personen zwinge zu einer Abwägung. Aus dieser Abwägung ergebe sich das Handeln zu Gunsten der übergrossen Mehrheit zu rettender Personen geradezu zwangsläufig. Zudem macht er geltend, die 164 Personen wären bei einem Absturz im Stadion ohnehin gestorben.
Menschenwürde steht über Abwägungen
Demgegenüber beruft sich die Staatsanwaltschaft mit dem Bundesverfassungsgericht auf die im Grundgesetz in Artikel 1 geschützte Menschenwürde und das in Artikel 2 geschützte Recht auf Leben. Im Zentrum steht dabei die sogenannte „Objektformel“. Nach ihr ergibt sich aus der Menschenwürde für jeden Menschen in allen staatlichen Verfahren, dass er stets als Subjekt und nicht als blosses Objekt zu behandeln sei.
Deshalb verwarf das Bundesverfassungsgericht das vorerwähnte Gesetz, gemäss dem der Abschuss erlaubt gewesen wäre. Denn unter der Prämisse der Achtung der Menschenwürde sei es unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen vorsätzlich zu töten.
Menschliches Leben und menschliche Würde, so das Bundesverfassungsgericht, genössen stets gleichen verfassungsrechtlichen Schutz, und zwar ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen. Bringe der Staat ein mit Passagieren besetztes Flugzeug zum Absturz, mache er Unbeteiligte zu Objekten. Indem ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt werde, würden die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräusserlichen Rechten missachtet. Sie würden verdinglicht und gleichzeitig entrechtet. Bei einem Abschluss würde der Staat einseitig verfügen. Den als Opfer einer Entführung schutzbedürftigen Flugzeuginsassen würde genau der Wert abgesprochen, welcher dem Menschen um seiner Person willen zukommt. Entscheidend ist mithin: Der arbiträre Eingriff des Kampfpiloten verletzt die Gleichwertigkeit aller Menschen.
Pragmatismus versus Prinzipientreue
Ist das eine Argumentation, die, wie die Verteidigung im Film behauptet, sich nur für juristische Seminare eignet, aber nicht für den Krieg gegen den Terrorismus? Geht es der Anklage einzig um die Wahrung von Prinzipien? Letztlich gewinnt die Verteidigung mit dem Argument, die Tat habe 70'000 Menschenleben gerettet, und nur darauf komme es an.
Das Prinzip der Gleichwertigkeit verlangt jedoch, dass kein Menschenleben geopfert werden darf, solange der Ausgang der Flugzeugentführung einen Rest von Hoffnung erlaubt, dass die Terroristen überwältigt werden und sich die Dinge zum Guten wenden könnten. Der Eingriff erfolgte indessen zu einem Zeitpunkt, bei welchem noch nicht von einem unabwendbaren Kausalverlauf gesprochen werden konnte, und dies macht ihn rechtlich unhaltbar. Diese Argumentation drang aber beim Publikum offensichtlich nicht durch.
Interessanterweise haben sich zwei ehemalige Bundesjustizminister explizit zum Fall geäussert. Der als nicht sonderlich liberal in Erinnerung gebliebene Otto Schily verteidigt im neuesten „Spiegel“ den Standpunkt der Staatsanwaltschaft und übernimmt dabei die vorstehend wiedergegebene Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, obgleich er und seine damalige rot-grüne Koalition es waren, die damals das kassierte Gesetz in den Bundestag einbrachten. Weiter geht der liberalste Justizminister, welchen Deutschland je hatte, Gerhard Baum, Justizminister in der Regierungszeit von Helmut Schmidt. Er wirft von Schirach letztlich vor, mit seinem Stück schüre er eine Grundstimmung, welche einen differenzierten Diskurs, der dem Begriff der Menschenwürde gerecht werde, nicht mehr zulasse.
Keine neutrale Versuchsanordnung
Von Schirach ist mit seinem Stück und dem Film ein Wurf gelungen. Durch die Anlage der Figuren und den Aufbau des Stücks erhält die Verteidigung nicht zuletzt auch dank des überragenden Schauspielers Lars Eidinger ein hervorstechendes Profil. Es nimmt die Zuschauer fast zwangsläufig für die Verteidigung gegenüber der etwas blass wirkenden Staatsanwältin ein. Das ist vom Autor fraglos so gewollt; es lag jedenfalls nicht an der geringeren Schauspielkunst von Martina Gedeck. Von Schirach selbst legte bislang die Karten nicht auf den Tisch, äusserte sich also nicht darüber, welchen Standpunkt er persönlich einnimmt. Das Stück aber erweist sich als klares Plädoyer für den Angeklagten. Undifferenziert ist es deswegen nicht.
Das überklare Publikumsverdikt zeigt eines mit Deutlichkeit: Der feinmaschige Verfassungsdiskurs eines Bundesverfassungsgerichtes hat nicht den Hauch einer Chance, gegen eine vordergründig naheliegende Entscheidung – 164 gegen 70'000 Menschenleben – zu bestehen. Natürlich erhielt die Verteidigung auch deshalb so grossen Zuspruch, weil dem Kampfpiloten eine gute Gesinnung attestiert wird und eine jahrelange Freiheitsstrafe als nicht adäquat erscheint. Die Frage der Länge der Freiheitsstrafe ist aber von der Grundsatzfrage des Schuldspruches, ob ein übergesetzlicher Notstand anzunehmen sei, zu trennen.
Ich bin mir bewusst, dass es nach diesem klaren Zuschauerverdikt nicht einfach sein wird, einer juristisch sauber argumentierenden Gegenfront wieder vermehrt Gehör zu verschaffen. Wer aber meint, solche schwerwiegende Fragen dem Alltagspragmatismus überlassen zu können, gibt den Verfassungsstaat letztlich auf. Das zu verhindern, dazu hat von Schirach mit seinem Stück nicht beigetragen.