Die in der Regel schweigenden Kartäuser wären heute beim Betreten der thurgauischen Kartause Ittingen völlig sprachlos. Sie würden am Ort, der von 1461 bis 1848 der Ihrige war, die Gültigkeit ihres Wahlspruchs erstaunlich unmittelbar erkennen: "Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht". Noch manifestiert sich das Kreuz in den klösterlichen Mauern, doch das Umfeld verwandelte sich in einen weltlichen Betrieb, der seit mehr als dreissig Jahren floriert. Er ist singulär mit der Vielfalt der übernommenen Aufgaben, die sich trotz manch fehlender Berührungspunkte zu einem nicht nur räumlichen, sondern funktionalen Ganzen fügen.
Disparat und doch ein Ganzes
In der ehemaligen Klosteranlage finden wir ein Seminarhotel, ein Restaurant, ein historisches und ein Kunstmuseum, ein Zentrum für Spiritualität und Bildung, Einrichtungen für betreutes Wohnen und Arbeiten, einen Gutsbetrieb, einen Klosterladen, eine Kirche und die Gärten.
Es gibt in der Schweiz und weit darüber hinaus kein Museum mit einer vergleichbaren Annexstruktur - und umgekehrt weder ein Hotel noch ein Restaurant, die es auf kürzeste Distanz erlauben, Kunst in Augenschein zu nehmen, Tiere zu streicheln, den Rosenduft einzuatmen, Produkte aus eigenem Hof zu kaufen und meditativ für eine Weile innezuhalten. Die Fülle, die Gegensätzlichkeit und die Ergänzungsfähigkeit des Angebots kennzeichnen die Kartause.
Sie liegt in einem Werbeprospekt von Landschaft: grün, sanft, weit und still. Rund ums Jahr bei Wetter und Sauwetter schön. Eine unverschämte Idylle.
Abwechslungsreiches Jahresprogramm
Wiederum ist in der Kartause ein kulturelles Jahresprogramm mit einer abwechslungsreichen Dichte vorbereitet worden. Es umfasst stichwortartig eine eigens für den Ort geschriebene Revue und ein Improvisationstheater, in das sich Laien autobiografisch einbringen, eine Seminarreihe mit Themen zur Lebensgestaltung, Führungen durch die Gärten sowie eine dem Weinbau und eine den Nahrungsmitteln gewidmete Sonderschau.
Auf Musikinteressierte warten die Sonntagskonzerte und mit dem 22. Programm die Pfingstkonzerte, auf Kunstinteressierte sechs Ausstellungen mit Leihgaben und Werken aus der Sammlung.
Durchwegs angestrebt wird Qualität. Die Verantwortlichen feilen an ihren kulturvermittelnden Argumenten, um ein breites Publikum zur Reise nach Ittingen zu animieren.
Klostergeist
Wenn für die einzelnen Programme konzeptionell Verbindendes auszumachen ist, dann die Prägung durch die geistige, historische und architektonische Faszination der Kartause. Das Idyllische der Landschaft und das bis auf unsere Tage Mystische und Friedliche des Klosters spiegeln sich auch in den aktuellen Kulturangeboten. Sie sehen sich im Dienste der ideellen Anregung mit einem Zug ins Erbauliche. Die kalkulierte Wirkung ist Beruhigung, weder Aufregung noch gar Verwirrung. Die Welt bleibt in Ordnung.
Das deckt sich mit einem wachen Publikumsbedürfnis. Unter den Aspekten der Vermarktung stimmt die Rechnung. Gestillt wird die Erwartung, in Ruhe das Schöne, Wahre und Gute geniessen zu können. Mit allen Sinnen. Bei Tisch, beim Einkauf im Klosterladen, bei Konzerten und Vorträgen, in den Museen.
Aktuelle Diskussion
Dieser Erfolgsformel gelingt eine Alternative zum grellen und von tatsächlichen zu vermeintlichen Events galoppierenden Kulturbetrieb. In Ittingen ist er die Interpretation des asketischen Daseins der Kartäuser als anstrengungslose Variante für Profane.
Das müsste freilich nicht die einzige Antwort sein auf die als Verpflichtung verstandene Wahrung des Erbes. Ein gegen die Überlieferung kritisch inszeniertes Kulturprogramm wäre spannend. Nicht das historische Interesse an der Lebensweise der Kartäuser stünde im Zentrum, sondern mit künstlerischen Mitteln das Weiterdenken der Stille, des Weltverzichst, der Besitzlosigkeit und der solidarischen Gemeinschaft.
Warten auf den Erweiterungsbau
Das bei flüchtiger Betrachtung absonderlich Idealistische der Kartäuser erschiene als konsequent mutiger Lebensentwurf, mit dem sich Kunst und Kultur aktualitätsbezogen auseinandersetzen.
Das in der geistigen Erbschaft steckende Potenzial könnte kreativer ausgeschöpft werden. Dazu bewegt vielleicht der dringend erforderliche Erweiterungsbau des Kunstmuseums. Er wurde längst, aber rechtlich derart abenteuerlich geplant, dass das Bundesgericht die Notbremse zog und das Projekt aufs kantonale Abstellgeleise lenkte. Dort werden Varianten für die Weiterfahrt mit jener Sorgfalt geprüft, die von Anfang an zur thurgauischen Solidität gepasst hätte.
Offen ist der Zeitpunkt für die Umschaltung des Signals auf Grün. Die Informationsarbeit vermeidet den Verdacht der Hektik.
www.kartause.ch
www.kunstmuseum.ch