Teil 1 der zweiteiligen Analyse
Rechtsgrundlage für die Einberufung eines solchen Ausschusses bildet die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats vom 18. Dezember 2015, die von Russland, Iran und der Türkei eingebracht worden war. Die Kernaussage lautete damals, dass nach Inkrafttreten eines Waffenstillstands unter Aufsicht der Vereinten Nationen freie und faire Wahlen abgehalten werden sollten, die einen durch die Syrer selbst gestalteten und verantworteten „politischen Übergang“ ermöglichten.
2017 hatte der ranghöchste russische Diplomat für Syrien, Alexander Lavrentiev, den Boden für diesen Verfassungsausschuss bereitet. Vorausgegangen waren im Februar und März 2017 fünf Gesprächsrunden zwischen Vertretern des Regimes in Damaskus und drei Oppositionsbündnissen, die ebenfalls in Genf unter Vermittlung der UN stattgefunden hatten. Bezeichnenderweise hat Lavrentiev das Privileg, selbst an den aktuellen Verhandlungen teilzunehmen.
Lavrentiev war es auch, der im Januar 2018 erstmals die Bildung eines 150-köpfigen Ausschusses vorgeschlagen hatte. Dieser sollte die indirekte Maklerrolle, die bislang die Vereinten Nationen innehatten, übernehmen und die Diskussion einer neuen Verfassungsordnung für Syrien eröffnen.
Eine Art „Vorparlament“
Besetzt wurde der Ausschuss mit 50 Delegierten des Regimes in Damaskus und 50 Delegierten des in Riyad/Saudi-Arabien ansässigen, im Dezember 2015 eingerichteten Hohen Verhandlungsausschusses für die syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte. Zudem ernannte das Generalsekretariat der Vereinten Nationen weitere 50 Delegierte, die die syrische Zivilgesellschaft repräsentieren sollten.
In dem Hohen Verhandlungsausschuss hat vor allem die in Istanbul ansässige Syrische Nationale Koalition das Sagen. Die Syrischen Demokratischen Kräfte, die bislang den Nordosten Syriens kontrollierten, und damit die kurdischen YPG, sind nicht vertreten. Während es nicht überrascht, dass die jihadistischen Kampfbünde wie die HTS nicht am Verhandlungstisch sitzen, sind die saudi-arabischen Alliierten im Syrienkrieg, die Freien der Levante (aḥrār ash-Shām) und die Armee des Islam (jaysh al-Islām) im Verfassungsausschuss indirekt vertreten.
Der Verfassungsausschuss hat den Charakter eines „Vorparlaments“. Da die Delegierten nicht demokratisch gewählt wurden, handelt es sich im Grunde um eine Honoratiorenversammlung ohne jede demokratische Legitimation. Der Ausschuss soll einen Fünfzigerrat als permanente Kommission des „Vorparlaments“ bestimmen. Russland, Iran und die Türkei, die Kampftruppen in Syrien stationiert haben, verstehen sich als Garantiemächte eines Verfassungsprozesses in Syrien und hatten ihre Aussenminister zur Eröffnung der Verhandlungen nach Genf geschickt.
Frage nach der Rechtsetzungskompetenz
Moderiert wird die Diskussion in Genf von Geir Pedersen, UN-Sonderbeauftragter für Syrien. Er zeigte sich von Beginn an optimistisch: „Die Tatsache, dass 150 Syrer zusammengesessen haben (…), um über die Zukunft Syriens zu diskutieren, war ziemlich beeindruckend.“ Zu den Mitgliedern des Ausschusses sagte er: „Ihre Zukunft wird nicht nur von dem geprägt sein, was in der Verfassung steht, sondern auch von der Art und Weise, wie sie geschrieben wird. (…) Verfassungen können helfen, die Wunden eines verheerenden Konflikts zu heilen und sogar die Grundlagen für ein neues Zusammenleben zu schaffen.“
Ziel der Verhandlungen ist die Einigung auf eine Verfassung für Syrien, aber es ist unklar, ob dies eine Ergänzung oder Neufassung der bestehenden, 2012 geschriebenen Verfassung oder eine von Grund auf neu formulierte Verfassung bedeuten wird. Eine Frist, wie lange die Gespräche dauern sollen, wurde nicht festgelegt. Allerdings bekundeten die Delegierten den Willen, „schnell zu arbeiten“.
Der Verhandlungsführer der Opposition und Präsident der Nationalen Allianz, Hādī al-Baḥra, liess verlauten, dass die Arbeiten an der Verfassung nur zwei bis sechs Monate benötigten. Immerhin habe die Koalition schon einen Verfassungsentwurf erarbeitet. Doch verschiedene Beobachter haben darauf hingewiesen, dass das Regime in Damaskus keinerlei Vorsorge getroffen habe, um die Arbeitsergebnisse des Verfassungsausschusses in syrisches Recht umzumünzen; selbst wenn es eine Einigung gäbe und der Verfassungsvorschlag in einem von der UN überwachten Referendum, an dem auch syrische Flüchtlinge teilnehmen könnten, angenommen würde, könnte sich das Regime darauf berufen, dass der Verfassungsausschuss keinerlei Rechtsetzungskompetenz hätte.
Zerstörte soziale Ordnung
Darüber hinaus ist kaum zu erwarten, dass sich die Delegierten des Verfassungsausschusses und der permanenten Kommission auf einen Text einvernehmlich einigen werden. Viele Bestimmungen werden, wenn überhaupt, nur grossmehrheitlich angenommen werden: hierzu ist die Zustimmung von 75% der Delegiertenstimmen erforderlich. Die erfolgreiche Implementierung von Einzelbestimmungen wird also von der Haltung der 50 „unabhängigen Delegierten“ abhängen, die durch die UN bestimmt worden sind.
In seiner Eröffnungsrede meinte al-Baḥra, der Sieg in Syrien bedeute, „Gerechtigkeit und Frieden zu erlangen, ohne den Krieg zu gewinnen“. Die Frage, die sich viele stellen, ist, ob ein Verfassungsprozess eine neue Ordnung der Freiheit, Gerechtigkeit und des Friedens herstellen und garantieren kann. Tatsache ist, dass ein solcher Prozess die soziale und politische Entstehungsgeschichte des Kriegs und damit die Konfliktursachen in keiner Weise würdigt. Man erinnere sich: der Krieg brach aus, weil das Regime jedwede Emanzipation der Bevölkerung als Zivilgesellschaft mit Waffengewalt unterdrückte. Die Forderung der Demonstranten auf der Strasse, das Regime habe sich vor dem Volk zu verantworten, verhallten im Lärm der Gewehre und Granaten. Der Krieg hat Ansätze für die Emanzipation einer Zivilgesellschaft zunichte gemacht. Stattdessen konnten Milizenführer und Kommandanten zahllose kleine Herrschaftsgebiete bilden, wo sie die staatliche Hoheit subsidiär für das Regime ausüben. Auch in den Rebellengebieten hat der Krieg die soziale Ordnung weitgehend zerstört. Versuche, diese durch eine „islamische Ordnung“ zu ersetzen, sind ebenfalls gescheitert. Korruption, Erpressung, Entführung und Willkür sind zum Markenzeichen solcher Kommandanten wie auch der Jihadisten geworden.
Europäische Modelle
Dass in einer vollkommen zerrütteten sozialen Ordnung ein Verfassungsprozess greifen wird, ist reines Wunschdenken der alten Eliten. Logisch wäre ein Befriedungsprozess, der in der sozialen Wirklichkeit beginnt. Es müsste der Konsens entstehen, dass nur die Emanzipation und aktive Partizipation der Bevölkerung als Zivilgesellschaft den Kreislauf der Gewalt durchbrechen kann. Erst eine solche Zivilgesellschaft wird in der Lage sein, die berechtigten Interessen der Bevölkerung und nicht bloss der Eliten in einen politischen Prozess einzubringen. Die sudanesische Opposition hat deshalb durchgesetzt, dass erst nach der Rekonstruktion einer freiheitlichen zivilgesellschaftlichen Ordnung ein fundamentaler Verfassungsprozess mit begleitenden Wahlen stattfinden wird. Ähnlich denken auch viele Oppositionelle in Algerien. Für Syrien bedeutet dies, dass die Weltgemeinschaft darauf beharren muss, dass der syrischen Bevölkerung die Chancen und Möglichkeiten für eine zivilgesellschaftliche Selbstorganisation gegeben werden. Das Regime in Damaskus, das in früheren Jahren schon das Bürgertum ausgemerzt hatte, hat keinerlei Interesse daran, durch eine Zivilgesellschaft kontrolliert zu werden. Seine Repräsentanten werden kaum bereit sein, auf ihre ökonomischen und sozialen Privilegien zu verzichten. Daher müsste das Regime diplomatisch gezwungen werden, eine Politik der radikalen gesellschaftlichen und politischen Öffnung zu ermöglichen.
Doch werden weder Russland, noch die Türkei oder die USA ein Interesse an einer solchen Diplomatie haben. Daher sind hier die Europäer gefragt. Die EU spielt nicht die Rolle einer Grossmacht im Syrienkrieg, und doch ist Europa durch die Flüchtlingsbewegung massiv vom syrischen Krieg betroffen. Europa könnte Modelle entwickeln, wie die Rekonstruktion und Emanzipation einer Zivilgesellschaft aussehen solle und gegebenenfalls sogar Mittel und Hilfen anbieten, sodass ein sozialer Prozess, der zu einer wirklichen Befriedung des Landes führen kann, möglich wird.
Teil 2 folgt am Donnerstag