Es ist mehr als zweifelhaft, ob eine Verfassung in Syrien helfen kann, die Wunden des Kriegs zu heilen und die Grundlagen für ein neues Zusammenleben zu schaffen. Die soziale Integration, die eigentliche Grundlage für die Konstituierung einer Gesellschaft, aus der sich dann die Institutionen einer Zivilgesellschaft herausbilden können, lässt sich nicht durch Verfassungen erzwingen und sicherstellen. Vielmehr bedarf es eines sozialen Vertrauens, das es erlaubt, die Waffen abzugeben.
Doch dieses Vertrauen entsteht erst in einem erneuerten Gesellschaftsvertrag, den das Regime garantieren müsste. Ein solcher Gesellschaftsvertrag, soll er denn nachhaltig sein, bedingt, die soziale und kulturelle Pluralität im Land anzuerkennen und daher auf zentralistische Staatsmodelle zu verzichten. Selbst temporäre Sezession von Teilen der Bevölkerung, die vielfach allein dem Selbstschutz dient, müsste zugelassen werden. Mit wachsendem Vertrauen liesse sich später eine solche Sezession durch neue Formen staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Assoziation überwinden.
Vertrauensbildende Massnahmen sind es also, worum es gehen müsste; eine solche Massnahme wäre, wenn sich das Regime endlich vor der eigenen Bevölkerung verantworten, Transparenz schaffen und den Weg für eine erfolgreiche Übergangsgerechtigkeit ebnen würde. Zugleich müssten auch in den Kommunen, den Hauptorten des Kriegs, neue Institutionen geschaffen werden, die analog auf lokaler Ebene eine neue und gerechte Machtverteilung ermöglichen.
Gefahr neuer Kriege
Zwar dürfte in näherer Zukunft das Regime von Damaskus zusammen mit seinen russischen und iranischen Verbündeten, Milizen der Hizbollah und Söldnern aus Afghanistan die militärische Kontrolle über weite Teile des Landes zurückgewinnen. Doch wird dies keinen Frieden bringen. Das Regime wird sich den Wiederaufbau des Landes durch auswärtige Hilfen finanzieren lassen und dafür Zugeständnisse in der Flüchtlingsfrage machen. Eine Verantwortung für den Krieg wird es nicht übernehmen.
Das Regime wird aber die tatsächliche politische Kontrolle über das Land kaum wiedergewinnen können. Die vielen lokalen Kriegsparteien werden auf ihre in den letzten sieben Jahren erworbene Macht nicht verzichten wollen. Das System der Patronage, in dem die Menschen Klienten der Macht sind, wird zunächst noch Bestand haben, auch wenn es im Nachbarland Libanon zunehmend in Frage gestellt wird. Der Konflikt wird bleiben und damit auch die Gefahr neuer Kriege. Um dem zu begegnen braucht es neue Formen einer informellen weichen Diplomatie, die die Hintertürdiplomatie der letzten Jahre ersetzt.
Gesellschaft vor Staat
Doch wie lässt sich diese weiche Diplomatie im Kontext des syrischen Kriegs denken? Auch hier lohnt es sich, an den Kern der ursprünglichen Forderungen der syrischen Opposition 2011 zu erinnern: Es ist die Gesellschaft, die die Ordnung des Staats zu bestimmen hat; es ist nicht Aufgabe des Staats, die Ordnung der Gesellschaft zu definieren.
Letzteres war aber genau die Hauptaussage der Herrschaft der Staatseliten in Syrien seit 1963 gewesen. Im Zuge der zivilgesellschaftlichen Emanzipation wurde gefordert, Instrumente zu schaffen, welche die demokratische Interessensvertretung und Kontrolle sowie den Minderheitenschutz sicherstellen. Dabei sollte der Gesellschaftsaufbau von unten nach oben erfolgen und bei den Kommunen beginnen. Dies aber würde auf erheblichen Widerstand der Staatseliten stossen, die die Armee, die Geheimdienste, den Apparat der Baʿth-Partei und zudem 75 Prozent des Bruttosozialprodukts des Landes kontrollieren.
Auch wenn die Aussichten für eine diplomatische Intervention zugunsten der Zivilgesellschaft schlecht sind, gibt es im Land selbst Szenarien für einen möglichen Wandel. Im Kontext der Verhandlungen des Vorparlaments in Genf wird immer wieder die Möglichkeit der Errichtung einer Parteiendemokratie mit einer parlamentarischen Verfassung diskutiert. Diese gäbe al-Asad die Möglichkeit, das Land als Präsident weiter zu repräsentieren und damit auch die Legitimität der Staatseliten zu zementieren. Das dürfte durchaus auch im Interesse der syrischen Oligarchenfamilien wie Makhlūf und al-Asad sein.
Dennoch ist dieses Szenario, das sogar von einigen russischen Think Tanks favorisiert wird, eher unwahrscheinlich. Genauso wenig ist ein Putsch der Armee nach dem Muster der Ereignisse im Sudan zu erwarten.
Unbewegliches Regime
Um einem Frieden in Syrien näher zu kommen, sollte der Genfer Prozess dennoch genutzt werden. Es müssten rechtlich verbindliche Instrumente für vertrauensbildende Massnahmen geschaffen werden. Diese müssten einen Demokratisierungsprozess „von unten“ ermöglichen, der parallel zum sozialen und ökonomischen Wiederaufbau verläuft. Voraussetzung hierfür ist es, Gewaltlosigkeit und Fairness auch rechtlich zu garantieren. Würde der Verfassungsprozess in Genf Grundlagen für diese rechtliche Garantie schaffen, könnte der Frieden schon näher rücken.
Einen weiteren Aspekt gilt es zu berücksichtigen: Da die Sieger dieses Kriegs allein die herrschenden Staatseliten und ihre auswärtigen Bündnispartner sein werden, ist es sehr zweifelhaft, ob das Prinzip, wonach allein die Syrer eine Lösung für den Krieg in Syrien finden müssten, Bestand haben wird. Der Krieg in Syrien ist zwischenzeitlich schon weitgehend globalisiert und berührt nicht nur die Interessen der Anrainerstaaten, sondern auch Europas. Daher ist es zwingend, dass alle Betroffenen an einer Friedenslösung mitwirken. Diese Mitwirkung könnte zugleich den Effekt haben, dass die vertrauensbildenden Massnahmen gewissermassen garantiert werden.
Wie dringend solch ein externer Standpunkt in Mediationsprozessen ist, wurde schon öfters gezeigt. Der Verhandlungsführer des Regimes in Damaskus, der Jurist Aḥmad Nabīl al-Kuzbarī (geb. 1971), hatte gleich bei der Eröffnung der Gespräche des Verfassungskomitees gesagt, dass der „Kampf zum Schutz des Staats legitim» sei und dass der „heldenhafte Kampf der syrischen Armee dem Terrorismus» gelte. Al-Kuzbarī war massgeblich für die Revision der syrischen Verfassung 2011/2 verantwortlich gewesen und wird wohl kaum davon zu überzeugen sein, dass das Verfassungskomitee etwas anderes im Sinn haben dürfe als eine Ergänzung zur bestehenden Verfassung auszuarbeiten.
Europäer als Mediatoren
Und doch wäre es an den Europäern, als legitime Mediatoren in diesem Prozess darauf hinzuweisen, dass ein Frieden in Syrien nur dann gewährleistet ist, wenn er nicht dem Staat, sondern der Gesellschaft gilt. Die alten Eliten hatten sich über die Baʿth-Partei und die Armee den Staat angeeignet und zum Souverän über die Gesellschaft erklärt. In ihren Augen ist der Krieg in Syrien ein Krieg der Gesellschaft gegen „ihren“ legitimen Staat, den sie als Garanten ihrer Interessen und als Patron der syrischen Bevölkerung definiert hatten. „Krieg gegen den Staat“ ist für sie semantisch gleichbedeutend mit „Terrorismus“.
Daher gelten in der Logik der alten Staatseliten die Rebellen genauso als „Staatsfeinde“ wie in Deutschland die RAF, in Italien die Mafia, in Südamerika die Drogen-Syndikate oder rechtsradikale Terroristen. In dem Mediationsprozess ginge es nun darum, diese Logik zu durchkreuzen und deutlich zu machen, dass der Krieg gegen die Gesellschaft, den der Staat führt, erst den Nährboden für den jihadistischen Terror und das Marodieren der Milizen bildet.
Die Befriedung der Gesellschaft müsste so über die Vergesellschaftung des Friedens erfolgen. Gemeint ist damit die Idee, dass Frieden in Syrien nicht durch staatliche Gewalt gestiftet werden kann, sondern nur durch einen neuen sozialen Konsens der Bevölkerung selbst und dass der Staat die Aufgabe hat, die Räume für die Bildung dieses Konsenses zu schaffen. Nur dann wird der Staat die Legitimität zurückgewinnen, die er braucht, um die gesellschaftliche Friedensordnung zu garantieren.