Die größte politische Partei der Schweiz, die ihre besondere Schweizer Qualität im Logo mit dem Schweizerfähnchen unterstreicht, befindet sich wieder einmal im Kampf. Genauer gesagt, sind es wohl die besorgten Mitglieder des leitenden Ausschusses, die seit Monaten gegen den drohenden Staatsstreich der Classe politique kämpfen. Die unheilvolle Entwicklung, die es zu stoppen gilt, lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Bundesrat will die Schweiz in die EU führen.
Die Parole lautet: Das schweizerische Recht muss wieder Vorrang haben gegenüber dem Völkerrecht.
Völkerrecht: Freund oder Feind?
Eine völkerrechtliche Norm, welche die Schweiz angenommen hat, wird Bestandteil der Schweizer Rechtsordnung. In der Normenhierarchie hat das Völkerrecht grundsätzlich Vorrang vor innerstaatlichem Recht. Unsere Bundesverfassung schreibt Bund und Kantonen die Einhaltung des Völkerrechts vor, dies auch im Einklang mit der Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat.
Völkerrecht ist also kein fremdes Recht – in unserer direkten Demokratie gilt kein Recht und keine Verpflichtung, dem, resp. denen wir nicht explizit zugestimmt hätten. In erheblichem Maße profitiert die Schweiz von diesen Vereinbarungen, die auch zur Stabilisierung und Friedenssicherung im europäischen Raum beitragen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein kompliziertes, aber eigentliches, eindrückliches Zivilisationsprojekt. Das moderne Völkerrecht erstreckt sich auch auf die internationalen Organisationen (wie die UNO) und auf die Rechte und Pflichten Privater. Über die bilateralen Verträge mit der EU, die uns erlauben, am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen, hat das Volk gar mehrmals abgestimmt.
Ich persönlich gehe davon aus, dass die Bevölkerung der Schweiz großes Interesse hat an einer funktionierenden Völkerrechtsordnung, in der das Recht der Macht vorgeht. Einer der Meilensteine für die Schweiz bei der Entwicklung des internationalen Völkerrechts war – vor fast genau 200 Jahren – der Wiener Kongress, dem wir die Neutralitätsgarantie durch die europäischen Mächte verdanken.
Kooperation statt Kampf
Unser Wohlstand, vieles davon angehäuft in den letzten 60 Jahren, beruht teilweise auf internationalen Zusammenarbeitsverträgen. Aber auch auf der Idee, dass der Mensch und dessen Gene nachweislich auf Kooperation angewiesen sind – die Theorie des ständigen Kampfes ist aus neurobiologischer Sicht längst in ein neues Licht gerückt. Der Kampf als Leitmotiv zum Machterhalt ist ein Relikt vergangener Jahrhunderte.
Der Kampf gegen „die da oben“ (Bundesrat, Parlament, Verwaltung, Bundesgericht und Rechtswissenschaft), der künstlich geschürt wird, verharrt gedanklich in jener Zeit, als die Beschwörung der nationalen Souveränität noch mit aggressiven Mitteln verfolgt wurde. Im 21. Jahrhundert gilt – wenigstens in Europa – die internationale Tendenz, fallweise die nationale Souveränität zugunsten des größeren Ganzen einzuschränken – ohne Getöse, dafür zur Wahrung des Friedens und Wohlstands der involvierten Länder.
Warum also der Kampf gegen fremde Richter, gegen das Völkerrecht? Warum kommt ein Jurist und ehemaliger Bundesrat zum Schluss, „der Begriff Völkerrecht erweckt den Eindruck, als sei es das Recht der Gemeinschaft aller Völker. Auch das ist ein Deckmantel. Er soll verdecken, dass es sich um undemokratisches Recht handelt.“ Liegt es an uns Schweizerinnen und Schweizern, darüber zu urteilen, weil wir ein Sonderfall sind?
Der gleiche, schon erwähnte Jurist, sekundiert wie üblich von der AUNS, zieht also wieder einmal in die Schlacht. Das kann ihm niemand verbieten. Schon eher zu denken geben Toni Brunners (Präsident der SVP) Worte, der orakelt „Ich frage mich aber, ob der Bundesrat weiß, was er tut“ (NZZ 6.9.2013), und: „für mich ist das Landesverrat“ – gemeint sind beide Male das bundesrätliche Verhalten im Zusammenhang mit der Europapolitik. Verbale Ausrutscher sind in der Schweiz ohne Folgen. Ob Schweizerinnen und Schweizer solche Weisheiten goutieren, darüber will ich nicht urteilen. Urteilen Sie bitte selbst.
Die Identitätsfalle
Der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen hat ein kluges Buch geschrieben („Die Identitätsfalle“, dtv). Darin geht er der Frage nach, warum Menschen die Ansicht hegen, „wir müssten unausweichlich eine angebliche einzigartige – oft streitbare – Identität haben, die augenscheinlich weitreichende – und zuweilen höchst unangenehme – Forderungen an uns stellt. Das Auferlegen einer angeblich einzigartigen Identität gehört oft als entscheidender Bestandteil zu der Kampfkunst, sektiererische Auseinandersetzungen zu schüren.“ Das sollten wir zweimal lesen und darüber nachdenken.
Sen plädiert dafür, dass wir selbstgewählte, ausschließliche Identitätenzuschreibung abwehren sollten, um zu verhindern, dass Menschen sich für Kampagnen mobilisieren lassen… Da stellt sich für mich die Frage, ob die vielbeschworene, einzigartige Identität der Schweiz, die „immer wieder aufs Neue erkämpft werden muss“ (Zitat Extrablatt der SVP vom November 2012), dieser Kategorie zuzuordnen ist? Gibt es Alternativen zum kritiklosen konformistischen Verhalten eines Teils der Bevölkerung in dieser politischen Grundhaltung? „Ein solcher Konformismus hat in der Regel konservative Implikationen, und er schirmt überkommene Sitten und Bräuche vor einer vernünftigen Überprüfung ab“, warnt Sen.
Weiter stellt sich die Frage, ob in diesem Fall („Wer hat Recht?) eine Art Kampf der Kulturen verfolgt wird? Sen dazu: „Die Frage, ob denn tatsächlich Kulturen miteinander kämpfen, beruht ja auf der Annahme, dass die Menschheit in erster Linie in ausgeprägte und klar voneinander abgrenzbare Kulturen unterteilt werden kann.“ Die Reduktion und der grundlegende Mangel dieser (Einzigartige-Schweiz-) These, gehen leider einher mit einer recht nebulösen Wahrnehmung der Weltgeschichte. Die holzschnittartige Idee, dass der Mensch eine einzige (einzigartige?) Identität hätte, auf dieser exklusiven Zuschreibung, basiert die Ideologie von Fundamentalisten, ist Sen überzeugt.
Zurück zur Sache
Jakob Kellenberger, ehemaliger Staatssekretär des EDA und später Präsident des IKRK, rät zu Objektivität. Er beurteilt die Streitschlichtung durch den Europäischen Gerichtshof nicht als hohen Preis, da die Mehrzahl der Fälle auf politischer Ebene im Gemischten Ausschuss Schweiz – EU erledigt würden. „Umso mehr ist eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der „fremden Richter“ angebracht. Der Begriff lässt sich emotional aufladen bis hin zu totalen Handlungsblockade. Mit der Realität haben solche sterilen Begriffskämpfe aber kaum etwas zu tun“ (TA 26.8.2013).
Sollte der Europäische Gerichtshof künftig in Streitfällen zwischen der Schweiz und der EU entscheiden, wären – folgt man Expertenmeinungen – diese Entscheide von der Schweiz zu akzeptieren. Die Soft-Variante, von der Bundesrat
Burkhalter spricht, dürfte ein Wunschtraum bleiben. Auch die Idee der Zwischenschaltung eines Schiedsgerichts ist vorläufig nicht mehr als ein Versuchsballon aus dem Bundeshaus. Für Vasilios Skouris, Präsident des EU-Gerichtshofs (EuGH), sind solche unverbindlichen Einschätzungen – quasi Auskunfterteilung – undenkbar. Rainer J. Schweizer, emeritierter Professor für Europa-, Völker- und Staatsrecht Uni St. Gallen, meint dazu: „Man muss sehen, dass der EuGH unabhängig ist gegenüber den EU-Behörden. […] Er trifft eine verbindliche Entscheidung. Die EU wird erwarten, dass die Schweizer Gerichte sich an die Vorgaben des EuGH halten“ (TA 23.8.2013).
Wenn wir als Nation den bilateralen Weg mit der EU weiterführen wollen, hat das natürlich seinen Preis. Die Vorteile dieser Abkommen, die unserer Exportwirtschaft den Zugang zu den Ländern der EU regelt, sind evident. Der Alternativvorschlag zum neuen bundesrätlichen Rahmenabkommen mit der EU (Rolle des Europäischen Gerichtshofs) – das Andocken an Efta-Institutionen im EWR – würde wohl viel stärker in die Souveränität der Schweiz eingreifen.
Warum also der Lärm?
Die politische Hochstilisierung des Themas gilt der Bewirtschaftung der Angst. Diese Taktik ist bewährt, aber nicht lösungsorientiert. Die Juristin Helen Keller vertritt die Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie ist der Meinung, dass das Völkerrecht nun mal die Grundlage für alle politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten darstellt und sie fragt sich, ob es sinnvoll ist, diese Rechtsordnung einmal mehr fundamental zu hinterfragen.
Die Angst vor fremden Richtern wird in unserem Land an Pressekonferenzen (und in der Folge in einzelnen Medien) geschürt um innenpolitisch Stimmen zu fangen. „Das schweizerische Recht muss wieder Vorrang haben“, natürlich muss es das. Doch wenn mehrere Staaten involviert sind? Müssen dann Deutschland, Frankreich, Italien unser Recht akzeptieren?
Angst vor guten Richtern?
Der Schweizer Thomas Maissen, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, früher Professor an der Universität Heidelberg, warnt vor falschen Erwartungen an die Rechtsprechung. „Richter unterschiedlicher Herkunft, die regelmäßig Lösungen für eine supranationale Gemeinschaft suchen, orientieren sich nicht mehr an den Interessen einzelner Nationalstaaten. Je fremder ihnen diese sind, desto allgemeingültiger, also gerechter, werden ihre Urteile“ (NZZ am Sonntag, 10.11.2013).
Auch die direkteste Demokratie der Welt sollte sich an internationale Spielregeln halten, wenn sie mitspielen will. Als kleiner Staat ist die Schweiz im eigenen Interesse darauf angewiesen, dass Regeln und Autorität des Völkerrechts akzeptiert werden. Die Bilateralen III - das nächste Verhandlungspaket mit der EU – dürfte ein harter Brocken werden. Vor Illusionen wird gewarnt.