Amerikas Medien werfen der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris vor, nicht genügend Interviews zu geben. In der Tat hat die Vizepräsidentin bisher lediglich mit zwei nationalen Fernsehsendern exklusiv gesprochen. Doch harten Fragen, heisst es, würde sie nach wie vor ausweichen.
Erste kritische Stimmen wurden bereits drei Wochen nach Joe Bidens Rücktritt aus dem Wahlkampf 2024 laut. «Ja, Kamala Harris sollte mehr mit der Presse reden», titelte die «Columbia Journalism Review» (CJR) am 12. August einen Beitrag ihres Kolumnisten. Ein Narrativ mache sich im Umfeld des Wahlkampfes breit: «Warum will die demokratische Kandidatin noch immer kein richtiges Interview geben?»
Bereits ihr früherer Chef, Joe Biden, hatte so wenige Interview gewährt und so wenige Pressekonferenzen abgehalten wie keiner seiner Vorgänger aus jüngerer Zeit. Was laut CJR unter Umständen damit zusammenhing, dass Politiker heute nicht mehr auf traditionelle Medien angewiesen sind, um ihre Botschaft unters Volk zu bringen, sondern jederzeit auf soziale Medien oder neu auch auf Influencer ausweichen können.
Im Fall von Kamala Harris kam die Website «Politico» zum Schluss, Harris’ enges Umfeld sei, wie jenes von Joe Biden, äusserst skeptisch gegenüber der Einschätzung, dass Interviews mit grossen Fernsehsendern oder nationalen Zeitungen viel bringen würden, wenn es darum ginge, Wechselwählerinnen und -wähler zu erreichen. Zwar sprach die Vizepräsidentin auf Flügen mit Leuten aus dem Medientross, aber ohne sich zitieren zu lassen. Was auch Donald Trumps Wahlkampfteam, allen voran Vize J. D. Vance, wiederholt öffentlich kritisierte – Trump zufolge, weil «sie (als Kandidatin) nicht smart genug ist».
Kritik an Kamala Harris kam auch aus den Medien selbst. «Die Medien und die Öffentlichkeit haben legitime Fragen und sie sollte sich ihnen stellen», forderte ein Leitartikel der «Washington Post». Andere Instanzen dagegen stellten fest, sie habe zu Beginn ihres Wahlkampfes Besseres zu tun, als mit den Medien zu reden. «Reporterinnen und Reporter glauben verständlicherweise, aber fälschlicherweise, dass es am Wichtigsten ist, mit ihnen zu reden», räumte ein Moderator des Fernsehsenders NBC ein. Auch wenn Donald Trump häufiger Fragen beantworte, heisse das nicht, dass er etwas Erhellendes sage: «Eine Lüge ist keine Antwort.»
Inzwischen sind weitere sieben Wochen des US-Wahlkampfs vergangen und der Tag der Entscheidung rückt näher. «Ja, Kamala Harris redet häufiger mit der Presse. Ist es genug?», fragte wiederum die «Columbia Journalism Review». Die Website «Axios» stellte fest, die Kandidatin und ihr Vize Tim Walz hätten sich seit Bidens Rücktritt sieben Mal in Interviews oder an Pressekonferenzen geäussert, während Donald Trump und J. D. Vance das 72-mal getan hätten. Kamala Harris selbst hatte laut «Axios» bis dato lediglich drei grössere Interviews gegeben: eines am Lokalfernsehen, ein zweites für einen nationalen Sender und ein drittes mit einem nationalen Zeitungstitel – Befragungen durch parteiische Medien und Fernsehauftritte in Shows wie «Oprah» nicht mitgezählt.
CJR räumte zwar ein, die demokratische Kandidatin gebe inzwischen mehr Interviews, aber nach wie vor zu wenige, um ihre politischen Positionen einem rigorosen Stresstest unterwerfen zu lassen. Wobei der Begriff «Interview» noch genauer zu definieren wäre. Der «New York Times» zufolge verfolgt Harris eine Strategie, die mehr auf Interviews mit lokalen Medien in Swing States oder mit Nischenanbietern beruht.
Vorgesehen ist im Oktober ein Auftritt in «60 Minutes», dem prestigeträchtigen Nachrichtenmagazin des nationalen Fernsehsenders CBS. Auch ist Kamala Harris nach wie vor zu einem zweiten Fernsehduell mit Donald Trump bereit. Was dieser allerdings ablehnt – früheren Bekräftigungen des Gegenteils zum Trotz.
Umso grösser also das Interesse, als die Vizepräsidentin vergangene Woche auf dem liberalen Kabelfernsehsender MSNBC zum zweiten Mal einem nationalen Medium während 25 Minuten Rede und Antwort stand. Sie sei dabei, monierte jedoch der Fernsehkritiker der «New York Times», direkten Fragen weitgehend ausgewichen und habe sich strikt an die Vorgaben ihrer Wahlkampfstrategie gehalten: «Ms Harris hat auf ziemlich grundlegende und vorhersehbare Fragen mit allgemeinen Antworten reagiert, die keine substanzielle Reaktion beinhalteten.»
Statt zum Beispiel zu beantworten, wieso Donald Trump in Umfragen zum Thema Wirtschaft ihrer Ansicht nach besser abschneide, habe sie lediglich seinen Leistungsausweis attackiert. Harris äusserte sich auch nicht zur Frage, wie sie gedenke, ihre Wirtschaftspolitik umzusetzen, falls die Demokraten bei der Wahl am 5. November die Mehrheit im US-Senat verlören. Die Kandidatin plädiert für Steuersenkungen für die Mittelklasse, für Steuererhöhungen für Reiche und grosse Firmen sowie für mehr Geld in Sachen Kinderbetreuung und Gesundheitsfürsorge. «Es ist nicht ganz klar, was Ms Harris (dank des Interviews) gewonnen hat, ausser dass ihr Wahlkampfteam sagen kann, sie habe ein exklusives Fernsehinterview gewährt», schloss die TV-Kritik der «Times».
In einem Faktencheck des Interviews auf MSNBC stellte die «Washington Post» fest, Kamala Harris habe in ihrer Kritik der Wirtschaftspolitik Donald Trumps fälschlicherweise behauptet, ihr Gegner habe bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie Schätzungen zufolge mindestens 200’000 Industrie-Arbeitsplätze verloren. In Tat und Wahrheit waren es lediglich 50’000 Jobs gewesen.
Der «Post» zufolge war auch Harris’ Behauptung falsch, wonach Lehrer und Feuerwehrleute, die sie im Lande draussen täglich treffe, höhere Steuern bezahlen müssten als die Reichsten der Nation. In den USA zahlt das reichste Prozent der Bevölkerung (Einkommen von mindestens 548’000 Dollar im Jahr) einen Steuersatz von 23 Prozent, während weniger Begüterte nach Abzügen und Ausnahmen kaum 10 Prozent entrichten. Laut nationaler Steuerbehörde (IRS) zahlen unter Amerikanerinnen und Amerikanern mit Einkommen zwischen jährlich 50'000 und 100'000 Dollar rund 60 Prozent einen Steuersatz von weniger als 10 Prozent.
Dem mutmasslich überwiegend demokratischen Zuschauerpublikum blieb es überlassen, sich mit den Antworten von Kamala Harris zufrieden oder enttäuscht zu zeigen. «Harris’ Interview mit Ruhle (der MSNBC-Moderatorin) beschäftigte sich eingehender mit ihrer geplanten Wirtschaftspolitik als irgendwelche andere Medienauftritte, die sie bisher als demokratische Kandidatin absolviert hat», konstatierte die News Website «Politico». Letzten nationalen Umfragen vom Wochenende zufolge führt Kamala Harris landesweit knapp vor Donald Trump: mit 49 zu 46 Prozent in der «Times/Siena»-Befragung und mit 48,5 zu 45,7 Prozent Nate Silvers politischer Website «538» zufolge.
In den wahlentscheidenden Swing States zeigt sich derzeit folgendes Bild: In Pennsylvania und Nevada führt Harris mit je einem Prozent vor Trump, in Michigan und Wisconsin mit je zwei Prozent. In Georgia dagegen liegt Trump mit einem und in Arizona mit zwei Prozentpunkten vorn. In North Carolina liegen die beiden gleichauf. Rund fünf Wochen vor der Wahl bleibt das Rennen um Amerikas Präsidentschaft offen und spannend: «Too close to call.» Daran dürfte auch das eine oder andere Interview wenig ändern – es sei denn, es gebe noch eine sprichwörtliche «October Surprise», ein überraschendes Ereignis im Herbst, das den bisherigen Wahlkampf auf den Kopf stellt und vielleicht die Wahl entschiedet. Den Medien wär's recht.