Mit seinem gewaltsamen und illegalen Vorgehen zur Grenzänderung hat Putin es fertiggebracht, die jüngere Vergangenheit Europas wieder heraufzubeschwören. Damals standen sich der Osten unter dem Diktat der UdSSR und der Westen unter Führung der USA in zwei Blöcken gegenüber. Indes wiederholt sich auch europäische Geschichte nicht. Zwar weht wieder ein Hauch von kaltem Krieg über unseren Kontinent, und die NATO verstärkt ihren Grenzschutz Richtung Osten etwas. Aber verglichen mit den vierzig Jahren (1950-90) der Ost-West-Konfrontation präsentiert sich die strategische Lage grundlegend anders. Russland ist heute eine – wenn auch geographisch grosse – Mittelmacht, der Warschaupakt existiert nicht mehr, und im europäischen Osten hat die demokratische Marktwirtschaft längst entscheidend über den totalitären Zentralismus gesiegt.
Unterschiede zur europäischen Block-Geschichte
Die Frage stellt sich vielmehr, ob im Grossraum Asien-Pazifik im 21. Jahrhundert eine Situation im Entstehen begriffen ist, wo eine Grossmacht, China, mit einigen Satelliten (Nordkorea, Laos, Kamboscha, bis vor kurzem Myanmar), angesichts rasch wachsendem Eigengewicht als dominierende Regionalmacht mehr Platz und Respekt einfordert. Dies wiederum führt zu Gegenreaktionen der bislang dominierenden pazifischen Grossmacht USA und ihrer vertraglich (Japan, Südkorea, Australien,Neuseeland, Phillippinen) und politisch (so etwa Indonesien, Thailand, de facto auch Vietnam) Verbündeten.
Auch hier wiederholt sich die Geschichte natürlich nicht einfach eins zu eins. Einmal ist China mit den USA und mehr noch mit deren asiatisch-pazifisch Verbündeten wirtschaftlich in einem Masse verbunden, wie dies die notorisch anämische Wirtschaft der UdSSR mit dem Rest der Welt nie auch nur im Ansatz war. Extrembeispiel: Über 80 Prozent des Hauptexportartikels von Neuseeland, verarbeitete Milchprodukte, gehen nach China.
Weiter gibt es im asiatisch-pazifischen Raum keinen antichinesischen Block, der politisch und geschichtlich dem nordatlantischen Bündnis vergleichbar wäre. Korea und Japan sind im Moment wegen geschichtlichen Belastungen ihres gegenseitigen Verhältnisses kaum noch ‘on speaking terms’. In Südostasien (ASEAN, Association of South East Asian Nations) sind Erstweltnationen wie Singapur mit mittelalterlichem islamischen Fundamentalismus (Brunei), aufstrebenden Mittelmächten (Malaysia) und bettelarmen Korruptionssümpfen (Kambodscha) in einem vergleichsweise losen Verband begriffen, welcher die EU weder imitieren will noch kann.
Der zweite Elephant
Schliesslich gab es in Südasien mit Indien, dem zweiten Elephanten im Raum Asien-Pazifik, eine politische Grösse, zu der während des Kalten Krieges in Europa überhaupt keine Entsprechung existierte. Dieser Tage steht in Delhi einmal mehr eine potentielle Wende bevor, indem ein als wirtschaftsliberal geltender Politiker voraussichtlich zum neuen Premierminister gewählt werden wird.
Wie die insgesamt enttäuschende Entwicklung in Indien seit seiner angeblich entscheidenden Hinwendung zur Marktwirtschaft vor rund zwanzig Jahren zeigt, ist die ‘grösste Demokratie der Welt’ indes auch heute und noch für geraume Zeit primär mit sich selbst beschäftigt. Strategisch betrachtet muss aber Indien die chinesische Expansion durchaus ernst nehmen. Dies insbesondere in Form der schnell wachsenden Marinekapazitäten Beijings, welche den Indischen Ozean, bislang von Delhi als Mare nostrum betrachtet, für das 21. Jahrhundert zum globalstrategischen Mittelpunkt macht, so wie es der Nordatlantik im 20. Jahrhundert war.
Forsches chinesisches Vorgehen
Dies alles läuft auf eine ungleich komplexere Lagebeurteilung hinaus, als dies die relative klare Zweiteilung in Europa während des Kalten Krieges erlaubte. Und doch war es ausgerechnet der chinesische Botschafter in Washington, Cui Tiankai, welcher vor kurzem vor der Errichtung ‘einer asiatischen NATO’ warnte. Unmittelbarer Anlass war die Unterzeichnung eines Stützpunktabkommens durch Präsident Obama in Manila. Dieser Vertrag war eine der Reaktionen auf forsches chinesisches Vorgehen in der notorischen Frage von Gebietsansprüchen im Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer. Beijing hat es fertiggebracht, eine sehr heterogene Front von Anrainern dieser zwei Teile des Pazifiks gegen sich aufzubringen.
Vor wenigen Tagen hat China mit der Verankerung einer Ölbohrplattform in einem bislang von Vietnam kontrollierten Küstengewässer einen weiteren Bauern vorgeschoben auf dem geostrategischen Schachbrett. Ob dies Beijing aus schierer Arroganz des neureichen Parvenu tut oder in der Folge nationalistischen Drucks auf seine Führungsspitze, ist letztlich belanglos. Zumindest für die Anrainer des chinesischen Meeres signalisiert solches Gebaren eine offensive Geringschätzung gegenüber internationalen Normen und nachbarschaftlichem Einvernehmen.
Steigt China friedlich auf?
Die für die Zukunft des asiatisch-pazifischen Raums entscheidende Grundsatzfrage hat John Mearsheimer – der Realpolitiker im Dreigestirn der führenden amerikanischen Polittheoretiker – so zusammengefasst: Kann China friedlich aufsteigen? (Can China rise peacefully? New Epilogue to ‘The Tragedy of Great Power Politics’, 2001). Ob darauf bereits eine allgemein gültige Antwort gegeben werden kann, wird in einem nächsten Beitrag zu untersuchen sein.
Zum Schluss an dieser Stelle wie zu Beginn ein historischer Vergleich. Anlässlich der hundertjährigen Wiederkehr des Ausbruchs des ersten Weltkrieges fragt man sich, ob zwischen dem aktuellen raschen Erstarken Chinas und jenem des wilhelminischen Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts eine Parallele gezogen werden kann. Und man hofft, dass im asiatisch-pazifischen Raum heute nicht ,wie damals in Europa, ‘schlafwandelnde‘ (‘The Sleepwalkers’, Kenneth Clark, 2013) Politiker und Militärs einer globalen Katastrophe entgegen taumeln.